Alles außer gewöhnlich
Frankreich 2019, Laufzeit: 115 Min., FSK 6
Regie: Eric Toledano, Olivier Nakache
Darsteller: Vincent Cassel, Reda Kateb, Hélène Vincent
>> alles-ausser-gewoehnlich-derfilm.de
Die Regisseure von „Ziemlich beste Freunde" sind zurück und überraschen mit einem Film, der nicht nur an ihren großen Erfolg anknüpft, sondern ihn in der Ernsthaftigkeit seines Anliegens sogar übertrifft. Die charismatischen Darsteller Vincent Cassel und Reda Kateb setzen hier die wahre Geschichte zweier Sozialarbeiter in Szene, die in Frankreich eine außergewöhnliche Betreuung für Menschen mit schwerem Autismus geschaffen haben, da das Gesundheitssystem diese bloß wegsperrt. Mit „Alles außer gewöhnlich" gelingt ihnen ein ebenso berührender wie pointierter Film über die Kraft der Empathie.
Emilie reißt sich los und rennt weg. Alles ist zu laut, zu viel, es tut weh. Sie schreit und schlägt um sich, als ein Betreuer sie einfängt und schützend die Arme um sie legt. Emilie hat Autismus, ihre Wahrnehmung ist so sensibel, dass sie sich nicht abgrenzen kann. Statt dessen lebt sie in einem ständigen psychischen Notfallmodus, ohne Sprache, und immer in Abwehr. Wie so viele andere Betroffene, hat das Gesundheitssystem sie aufgegeben und ordnet nur noch Verwahrung in der Psychiatrie an. Dagegen versuchen zwei engagierte Sozialarbeiter ein Model zu setzen, das nach wie vor beispiellos ist: Bruno (Vincent Cassel) leitet eine Wohngruppe für schwer autistische Menschen und arbeitet mit Malik (Reda Kateb) zusammen, der in den Banlieues Jugendliche wieder in die Gesellschaft eingliedert. In einer 1:1-Betreuungsituation bringen die Sozialarbeiter junge Menschen aus beiden Gruppen zusammen. Die Gesundheitsbehörde ist natürlich alarmiert und sendet immer wieder Inspektoren, die dem Projekt grobe Fahrlässigkeit und Unprofessionalität attestieren sollen. Für die Jugendlichen, die sonst nur planlos auf den Straßen herumlungern, bietet sich jedoch das erste Mal die Möglichkeit Verantwortung zu übernehmen und dabei Qualifikationen für einen sozialen Beruf zu erwerben. Auf den ersten Blick scheint es wenig Berührungspunkte zwischen ihnen und den autistischen Menschen zu geben, aber das täuscht: Beide Gruppen haben teilweise schwere Gewalterfahrungen, sind durch alle disziplinarischen Maßnahmen des Staats gefallen und fühlen sich allein und hilflos. Die entstehende Empathie zwischen ihnen wird von den beiden Regisseuren mit sehr viel Feingefühl in Szene gesetzt. In ganz ähnlicher Weise wie Nora Fingscheidts überraschender Publikumserfolg „Systemsprenger" gelingt ihnen ein mitreißender Film, der sich für Inklusion stark macht. Und da Olivier Nakache und Éric Toledano ebenfalls über viel Erfahrung mit beschwingten Komödien verfügen, gerät „Alles außer gewöhnlich" auch noch verblüffend humorvoll. Das Duo Cassel-Kateb spielt sich immer wieder die Bälle zu und agiert dabei ganz konträr zu dem Rollenbild, für das die beiden Schauspieler bekannt sind. Zurückgenommen und sensibel spielen sie zusammen mit autistischen Menschen wie Benjamin Lesieur, der in Frankreich gerade für den Newcomer-Preis nominiert wurde, und es sichtlich genießt, beim Filmdreh mitzuwirken und sich auszudrücken. Ein Teil des Umsatzes geht an die reale Initiative „Le Silence des Justes", die nach wie vor nur mit einer Duldung der Behörden arbeitet und dabei positive Veränderungen bei den Betreuten erzielt, die viele Annahmen über Autismus in Frage stellen. Durch einen respektvollen und einfühlsamen Umgang lassen sich Rückzug und Gewalttätigkeit auflösen. „Alles außer gewöhnlich" ist ein beeindruckender und unbedingt sehenswerter Film, über eine soziale Grundkompetenz, die nicht nur beim Autismus auf dem Spiel steht: Anerkennung von Differenz und Empathie.
(SILVIA BAHL)