Alles was kommt
Frankreich 2015, Laufzeit: 97 Min., FSK 0
Regie: Mia Hansen-Løve
Darsteller: Isabelle Huppert, Andre Marcon, Roman Kolinka, Edith Scob
>> www.alleswaskommt.weltkino.de/
Wann hat man im Leben den Punkt überschritten, an dem man noch einmal komplett von vorne anfangen kann? Was bleibt und was eröffnet sich uns immer wieder neu? Wie könnten wir leben, wenn wir nur unsere Feigheit zurückließen? Mia Hansen Løves auf der Berlinale mit dem Regie-Preis ausgezeichneter Film findet darauf lebenskluge und differenzierte Antworten.
In Zusammenarbeit mit Isabelle Huppert gelingt ihr ein Film, der nicht nur über seine gewohnt charismatische Hauptdarstellerin funktioniert, sondern vor allem über die Lebendigkeit der Räume und Szenarien, die er entwirft. Im besten Sinne französisch erzeugt er, wovon er handelt: ein savoir vivre, zwischen dem Meeresrauschen der Bretagne, lichtdurchfluteten Esszimmern voller Bücherregalen, Orten der Zusammenkunft in der Stadt, an denen um Lebensweisen gestritten und gestreikt wird. Durch sie bewegt sich Nathalie, ungemein zart verkörpert von Huppert, in ihrem intellektuellen Milieu. Sie, Gymnasiallehrerin, ihr Ehemann, Professor für Philosophie an der Universität, beide seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet.
An einem sommerlichen Tag konfrontieren die erwachsenen Kinder ihren Vater mit dem Wissen um seine bereits lange andauernde Affäre und der unaufgeregten Bitte nach einer Entscheidung, die tatsächlich zu Gunsten der Geliebten ausfällt. Nathalies Welt bricht nicht zusammen, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern formiert sich neu. Hansen Løve lässt ihre Protagonistin „Schwierige Freiheit“ von Emmanuel Lévinas lesen und denkt filmisch über die Möglichkeiten nach, die sich einer Frau um die fünfzig noch eröffnen können, gerade weil die familiären Verpflichtungen sich lösen und ein Raum radikaler Neuentwürfe entsteht. Ein ehemaliger Schüler bringt ihr Bewunderung entgegen, die ins Erotische kippt und lädt sie in eine Studentenkommune ein, die versucht anarchistische Konzepte neu zu formulieren. Es gelingt ihr, sich aus der neurotischen Beziehung zu ihrer Mutter zu befreien, aus der lediglich eine dicke schwarze Katze mit dem vielsagenden Namen Pandora übrig bleibt. Vielleicht ist dieser Bruch das beste, was passieren konnte, Hansen Løves Kunst besteht allerdings darin, die Geschichte in der Schwebe zu halten und dabei sehr genau zu beobachten, wie Schmerz und Verlust mit Neuanfängen verbunden sind. Dies verwebt sie mit den Denkkonzepten, an denen die Figuren sich abarbeiten, in einer unaufdringlichen, leichten und sehr reflektierten Weise. Selten lässt sich über einen Film sagen, dass seine Bilder atmen, doch hier wird der unbedingte Wunsch nach einem guten Leben tatsächlich fühl- und erfahrbar, keine bloße intellektuelle Debatte.
Durch und durch humorvoll, unterhaltsam und unvorhersehbar schafft der Film eine Welt, in die man eintauchen möchte, ohne zwingend an die Narration gebunden zu sein.
Vielleicht ist dies auch ein Stück französischer Selbstverständlichkeit, die zu inspirieren vermag.
Wenn Nathalie in einem in goldenes Licht getauchten Park mit ihren Schülern über Foucault und die Frage der Bedeutungsentstehung diskutiert, antwortet ihr Hansen Løve auf der Erzählebene dadurch, dass sie nachvollziehbar macht, was es für uns heißt, wenn die Zeit vergeht. Welche Dinge nicht mehr rückgängig zu machen sind, hinter welchen Punkt wir nicht mehr zurückgehen können, wenn etwas bereits in der Welt ist und welches Gewicht gemeinsam verbrachte Jahre haben. Dass die Frage nach dem, was noch kommt, dennoch mehr ermöglicht, als wir uns vorstellen können, zeigt der Film auf eine ungemein hoffnungsvolle Weise, ohne je ins Fantastische abzudriften.
(SILVIA BAHL)