Das unbekannte Mädchen
Belgien, Frankreich 2016, Laufzeit: 106 Min., FSK 6
Regie: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne
Darsteller: Adèle Haenel, Olivier Bonnaud, Jérémie Renier
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Zum siebten Male waren die Dardenne-Brüder mit einem Film in Cannes vertreten, und auch wenn sie heuer erstmals keine Auszeichnung mit nach Hause nehmen konnten, ist ihr neuer Film Autorenkino ‚at its best'. Auffallend ist die ähnliche Anlage wie ihr Vorgänger ZWEI TAGE, EINE NACHT, in dem Marion Cotillard ihre Arbeitskollegen überzeugen sollte, auf ihren Jahresbonus zu verzichten, damit der Chef sie nicht entlassen muss. Hier ist es nun eine junge Ärztin, die bei ihren Nachforschungen in einem Todesfall einer schwarzafrikanischen Prostituierten von Haus zu Haus ihrer Gemeinde zieht und zunächst auf eine Mauer des Schweigens trifft.
Haben die Dardennes früher meist mit Laienschauspielern gearbeitet, vertrauen sie diesmal erneut die Hauptrolle einem Profi an. Adèle Haenel (Liebe auf den ersten Schlag) spielt die junge Ärztin Jenny, die eines Abends lange nach Dienstschluss noch in der Praxis ist und die Behandlung eines Mädchens verweigert, weil sie endlich Feierabend machen will. Als dieses am anderen Tag tot aufgefunden wird, macht sie sich schwere Vorwürfe und beginnt, ihre Identität zu ermitteln. Dabei gerät sie nicht nur in Konflikt mit der hiesigen Polizei, sondern auch mit ihren Mitbürgern, die zwar schon oft ihre Dienste in Anspruch genommen haben, auf ihre Nachforschungen aber ausgesprochen gereizt reagieren. Jeder hat hier sein eigenes unrühmliches Geheimnis, und niemand will für das Schicksal einer fremden, schwarzafrikanischen Frau Verantwortung übernehmen. In einer der intensivsten Szenen dieses Films trifft sie auf die Schwester der Toten. Diese hatte bisher die Verwandtschaft aus Angst vor der Aufdeckung ihres illegalen Aufenthalts geleugnet, gesteht der jungen Ärztin aber nun, dass sie mit dieser Notlüge nicht weiterleben und sich zu ihrer Schwester bekennen will, um ihr eine ordentliche Beerdigung zu ermöglichen.
Wie die meisten ihrer Filme angesiedelt in Seraing, einem Vorort von Lüttich, sezieren die Dardennes wieder einmal unsere moderne Gesellschaft auf eine ungemein exakte und anschauliche Weise. Dabei geht es ihnen vornehmlich um Authentizität, weshalb die junge Ärztin keine herausstechende Heldin ist und nicht aus Überzeugung, sondern aufgrund eines Schuldgefühls handelt. Bei ihren Nachforschungen im Ort trifft sie auf ihre Patienten, die sie nun erstmals als Menschen kennen lernt. Menschen, die größtenteils von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden und nun wiederum sozial schlechter gestellte ausschließen. Dabei begegnet Jenny ihnen mit dem größtmöglichem Respekt, beschuldigt sie nicht und verurteilt sie auch nicht.
Trotz der Schlichtheit der Geschichte, gelingt den Dardennes mal wieder ein ungemein präziser und tiefgreifender Blick hinter die Kulissen unserer Gesellschaft. Ihnen ist ein kleiner, feiner Krimi mit sozialkritischem Anliegen der unaufdringlichen Art gelungen. Seine emotionale Kraft verdankt er der souveränen Erzählweise, der genauen Beobachtung seiner Figuren, vor allem aber seiner erstklassigen Hauptdarstellerin. Vor vier Jahren trat Adèle Haenel als europäischer „Shooting Star" ins Rampenlicht, danach gab es zwei „Césars" in Folge. Unter den behutsamen Händen der Dardennes läuft die 27-Jährige nun, eigentlich kaum überraschend, zur Hochform auf. Wer mehr von diesem großartigen Talent am europäischen Kinohimmel sehen möchte, hat dazu demnächst auch bei „Die Blumen von gestern" von Chris Kraus eine weitere Gelegenheit.