Der Junge mit dem Fahrrad
Frankreich, Belgien, Italien 2010, Laufzeit: 87 Min., FSK 12
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Darsteller: Thomas Doret, Cécile De France, Jérémie Renier, Egon Di Mateo, Fabrizio Rongione
>> www.derjungemitdemfahrrad.de
Hattrick für die Dardenne-Brüder? Zuzutrauen wäre ihnen die dritte Goldene Palme von Cannes gewesen, doch am Ende wurde es - nur - der Große Preis der Jury. Ihr neuer Film vereint die Qualitäten seiner Vorgänger („Rosetta“ und „L’Enfant“) mit dem Plus, dass er nicht ganz ohne Hoffnung endet. Hoffnung für den 12-jährigen Helden Cyril, dem der Vater davongelaufen ist. Dieser hat ihn zu Beginn des Films in einem Kinderheim abgegeben, offiziell nur für einen Monat, doch danach taucht er nicht mehr auf, und so macht sich der Junge auf, den Verschwundenen auf eigene Faust zu suchen.
Dass er dabei auf sich allein gestellt ist, ist Cyril von Anfang an klar. Den Erwachsenen glaubt er jedenfalls kein Wort mehr. So überzeugt er sich selbst davon, dass das zuvor gemeinsam bewohnte Apartment mit dem Vater leer ist. Mit der Friseurin Samantha findet er eine Freundin, die sich des Jungen annimmt und versucht, ihm die Mutter zu ersetzen und sein Selbstvertrauen zu stärken. Gemeinsam spüren sie den flüchtigen Vater auf. Der arbeitet als Koch und gibt zu, dass er sein Leben nicht auf die Reihe bekommt, und nicht willens und in der Lage ist, sich um seinen Sohn zu kümmern. Cyril muss nicht nur lernen, ohne seinen Vater auszukommen, sondern auch trotz seiner vielen negativen Erfahrungen anderen Menschen zu vertrauen und ihre Liebe anzunehmen. Unsentimental und berührend zugleich, bleiben die Dardenne-Brüder ihrem schonungslosen Realismus treu, setzen aber am Ende doch einen Hoffnungsschimmer, dass das hartnäckige Bemühen Samanthas um Cyril Früchte tragen wird.
Auf der Pressekonferenz in Cannes erzählten die Brüder Dardenne, dass sie ähnlich zu Mike Leigh meist mit Laiendarstellern drehen. Anders als Leigh, der seinen Schauspielern kein Skript gibt und sie einfach improvisieren lässt, halten sie sich dagegen sehr genau ans Drehbuch, lassen das Ensemble lange proben, damit es den Rhythmus des Films findet und dann nicht spielen, sondern nur noch da sein muss. Dabei versuchen sie so wenig Technik wie möglich zwischen sich und die Schauspieler zu bringen. Ihre Kameraarbeit ist insofern interessant, als die Kamera meist etwas anderes tut als die Schauspieler. Wenn Cyril zum Beispiel Reißaus nimmt, weil er einen Heimmitarbeiter gesehen hat, folgt ihm die Kamera erst mit Verzögerung. So als wäre sie von seinem Verhalten überrascht worden, verweilt sie einen Moment, als wisse sie nicht, was sie tun soll, bis sie ihm wieder folgt. Die Kamera ist nie synchron und oft am falschen Ort.
Mit Cecile de France haben die Dardennes zum ersten Mal mit einer professionellen Schauspielerin gedreht. Anfangs hatten sie schon Angst, ob sie bei ihren exzessiven Proben, wo es oft stundenlang nur darum ging, wie man eine Tür öffnet, mitmacht, doch sie hat sich wunderbar ins Team eingeordnet. Die Rolle von Cyril erinnert ein wenig an Truffauts „Antoine Doinel“, er ist immer in Bewegung, bis er seinen Vater gefunden hat. Erst bei ihm kommt er zur Ruhe. Mit Truffaut haben die Dardennes auch gemeinsam, dass sie die Kindheit nicht als etwas Süßliches darstellen, sondern sie in ihrer ganzen Härte zeigen. Dabei klagen die Kinder nicht, denn sie kennen nur diese eine Realität und stellen sie nicht in Frage, sondern nehmen sie als gegeben hin und versuchen das Beste daraus zu machen. Auf die Frage nach dem besten und schlechtesten Moment der Dreharbeiten, antwortete der junge Schauspieler verschmitzt: „Der erste Drehtag war der schönste, weil alle so nett zu mir waren und der letzte war der schrecklichste, denn da war schon wieder alles vorbei.“
(Kalle Somnitz)