Einfach das Ende der Welt
Kanada, Frankreich 2016, Laufzeit: 99 Min., FSK 12
Regie: Xavier Dolan
Darsteller: Gaspard Ulliel, Marion Cotillard, Léa Seydoux, Vincent Cassel, Nathalie Baye
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Exzentrisch. Laut. Bildgewaltig. Schwelgerisch. Bunt. Geladen. Emotional. Das sind Charakteristika, die man augenblicklich mit seinen Filmen verbindet. Schon mit 20 erntete Xavier Dolan Lob, von dem andere Filmemacher ihr ganzes Leben träumen. Und mit 27 präsentierte das Wunderkind aus Quebec seinen sechsten abendfüllenden Spielfilm beim Filmfestival von Cannes. In einem Gemisch aus Jubel und Buhrufen nahm er den Großen Preis der Jury entgegen.
Der 34jährige Schriftsteller Louis (Gaspard Ulliel) sitzt in einem Flugzeug auf dem Weg zu seiner Familie, die er das letze Mal vor zwölf Jahren besucht hat. Ihm bangt vor dem Empfang, den man ihm womöglich bereiten wird. Und als er schließlich über die Türschwelle seines einstigen Heims tritt, ahnt man wieso. Seine jüngere Schwester Suzanne (Léa Seydoux), die er kaum kennt, ist die Einzige aus der Sippschaft, die sich ihm zur Begrüßung an den Hals wirft. Die eigene Mutter (Nathalie Baye) zeigt verhaltene Freude, während Schwägerin Catherine (Marion Cotillard) schüchtern versucht, mit belanglosem Smalltalk die von Beginn an unangenehme Stimmung zu überbrücken, welche erstrangig von Louis´ Bruder Antoine (Vincent Cassel) verursacht wird, der sich unversöhnlich distanziert und sporadisch rüde gibt. Eigentlich will der Autor seinen Verwandten von seinem baldigen Ableben erzählen, denn er ist schwer krank. Doch zuerst muss er die Kluft überbrücken, die sich zwischen ihm und seiner Familie aufgetan hat. Und diese Kluft ist bis zum Bersten gefüllt mit unausgesprochenen Vorwürfen, die eruptiv an die Oberfläche dringen.
Es ist eine schrille Bande, die hier illustriert wird. Der Hauptcharakter homosexuell, die junge Schwester eine sexy Kifferin, die Schwägerin ein scheues Reh, der Bruder ein Rowdy und die Mutter, wie immer bei einem Dolan-Film, an ihrer geschmacksverirrten Aufmachung und zu dick aufgetragenem Makeup zu erkennen. Bei dieser Figurenkonstellation wundert es kaum, dass beinahe unmittelbar nach der Ankunft des verlorenen Sohns das große Gekeife und Gezeter vom Himmel bricht. Das langerwartete Wiedersehen, welches eigentlich als idyllischer Festtag geplant war, verwandelt sich sogleich in einen Kraftakt für die kleine Runde und den Zuschauer. Es ist famoses Theater mit launenhaften Stimmungen, die unvorhersehbar zwischen Himmelhochjauchzend und Todestrübe pendeln. Kein Film, den man im klassischen Sinne genießt. Aber einer, der sprichwörtlich mitnimmt. Inmitten der atmosphärischen Nahaufnahmen von den einzelnen Gesichtern, welche die brodelnden Emotionen greifbar machen, die sich in ihnen abzeichnen, lauert das unheilvolle Motiv, das Louis an diesen fragwürdigen Ort nostalgischer Erinnerungen führte. Erinnerungen, die nun in einem Bombardement aus wüsten Beschimpfungen verbleichen. „Einfach das Ende der Welt“ reiht sich nahtlos in Dolans Filmographie ein und beweist, dass der junge Kanadier zurecht zu einer der innovativsten, stärksten und fraglos eigenwilligsten Stimmen einer neuen Generation Filmschaffender gekürt wurde.
(NATHANAEL BROHAMMER)