Genius – Die tausend Seiten einer Freundschaft
Großbritannien, USA 2016, Laufzeit: 104 Min., FSK 6
Regie: Michael Grandage
Darsteller: Colin Firth, Jude Law, Nicole Kidman, Laura Linney
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Max Perkins (Colin Firth) ist der Star beim New Yorker Verlagshaus „Scribner’s Son“, wo er in den 1920er Jahren als Lektor arbeitet. Neue Worte und radikale Ideen sind es, die seiner Meinung nach einen grandiosen Roman ausmachen. Gegen alle Widerstände seines Arbeitgebers nimmt er immer wieder ebenso unbekannte, wie talentierte Autoren unter Vertrag, wie zum Beispiel Ernest Hemingway oder F. Scott Fitzgerald. Als der junge Thomas Wolfe (Jude Law) ihm eines Tages eine lose, tausendseitige Blättersammlung zukommen lässt, schlägt sofort sein unfehlbarer Instinkt an: Hinter dem Chaos verbirgt sich ein literarisches Genie!
Es ist Thomas Wolfes erstes Manuskript und in allen anderen Verlagen hat er sich bereits eine Abfuhr geholt. Davon geht er auch bei Scribner’s Son aus, doch er will trotzdem den legendären Lektor kennen lernen, der so viele seiner Vorbilder entdeckt hat. Perkins dagegen liest die Zettelsammlung nur, weil man sie ihm nicht als gut, sondern eher als bemerkenswert und einzigartig beschrieben hat. Diese Adjektive wecken sein Interesse und er kämpft sich die ganze Nacht durch den Stoff. Als Wolfe nachfragt, ist er überrascht, dass Perkins das Manuskript veröffentlichen will, es müsse aber noch bearbeitet werden. Die tausend Seiten lose Blattsammlung muss empfindlich gekürzt und in eine Form gebracht werden, die dem Leser zuzumuten ist. Erfreut willigt Wolfe ein, den Roman mit ihm zusammen zu überarbeiten und auf 300 Seiten einzudampfen. Eine akribische Mammutaufgabe wartet da auf die beiden Männer, die doch so unterschiedlich sind. Der eine ist eine emotionslose Leseratte, der sein Leben bisher nur mit Büchern und Rotstift verbracht hat, während der andere, hungrig nach Lust und Abenteuer, gelegentlich schon mal die Gefühle seiner besten Freunde verletzt. Trotzdem werden die beiden auch privat Freunde und ihre gemeinsame Arbeit ist für sie gleichermaßen kämpferisch wie erhellend. So gibt es immer wieder Streit, wenn Perkins versucht, Wolfes gelegentlich vor Emotionalität überschäumende Kapriolen in literarische Konventionen einzubetten. Erbittert streiten die beiden Nacht für Nacht um jedes Wort und jede Zeile. An einem dieser Abende schleppt ihn Wolfe in einen schwarzen Jazzclub. Der zurückhaltende Perkins ist nicht begeistert, doch dann fordert ihn Wolfe auf, sich ein Lied zu wünschen. Er wählt „Flow gently sweet Afton“, das die Band im folgenden interpretiert und Wolfe erklärt ihm die Parallele zwischen Literatur und Jazz: So, wie die Musiker aus dem getragenen schottischen Traditional eine rhythmische Tanznummer machen, so gibt auch er althergebrachten Worten einen neuen Klang.
Fortan streiten sie zwar nicht weniger, wissen aber besser worüber. Künstlerischer Freigeist steht hier im Widerstreit mit literarischer Tradition. Dabei verändert sich der Roman zusehends, so dass man am Ende kaum noch weiß, wer der eigentliche Urheber ist. Doch der Erfolg gibt den beiden Recht. Auch wenn Wolfe vor den Kritiken ins Ausland flüchtet, mit „Von Zeit und Strom“ ist ein Bestseller geboren, der Wolfes Arbeitseifer neu entfacht und bald schon steht er mit einer Sammlung von 5.000 Seiten vor der Tür…
Michael Grandage ist mit „Genius“ ein großartiger Männerfilm gelungen, der ebenso viel Gespür für die Weltliteratur hat wie für Werte wie Freundschaft, Respekt und Solidarität. Er beschreibt die Annäherung der beiden Männer vor dem Hintergrund des kulturellen Reichtums der Roaring Twenties auf der einen und der großen Wirtschaftskrise auf der anderen Seite. Tief dringt er in das Wesen der Literatur ein und stellt die Frage, was sie ausmacht: Strenge Disziplin oder unbändige Phantasie? Im Prinzip vertreten die beiden das apollinische und dionysische Prinzip, und es ist auch schauspielerisch ein Genuss, Colin Firth und Jude Law bei ihren Grabenkämpfen zuzusehen.
(Kalle Somnitz)