Jackie – Wer braucht schon eine Mutter
NL 2012, Laufzeit: 100 Min., FSK 12
Regie: Antoinette Beumer
Darsteller: Carice Van Houten, Jelka van Houten, Holly Hunter
>> www.jackie-derfilm.de
Auf den scheinbar ausgetretenen Pfaden des Road-Movies gelingt es der niederländischen Regisseurin Antoinette Beumer, dem Genre eine wunderbare Aktualisierung zu verpassen und die darin durchlebte Krise und Selbstfindung in moderne Familienstrukturen zu übersetzen. „Jackie“ ist ein warmherziger, unterhaltsamer und überraschender Film über drei starke Frauen, die sich der Frage stellen, was Herkunft für sie bedeutet und sich darauf einlassen, dass die Antwort ihr bisheriges Leben grundlegend verändern wird.
Es ist zum Großteil der Schwester von Beumer, Star-Schauspielerin Famke Janssen zu verdanken, dass für diese kleine Indie-Perle Oscar-Preisträgerin Holly Hunter engagiert werden konnte, die ihre Rolle als mysteriöse, schroffe Hippie-Mutter mit Indiana-Jones-Faktor hervorragend, und ohne vieler Worte zu bedürfen, ausfüllt. Als diese mit einer komplizierten Knochenfraktur ins Krankenhaus eingeliefert wird und sich als nicht sehr kooperativ erweist, kontaktieren die Pfleger in ihrer Not die Töchter Sofie (Claire van Houten) und Daan (Jelka van Houten) in den Niederlanden. Doch die Verwandtschaftsbeziehung ist komplexer als gedacht – die beiden Zwillingsschwestern sind nämlich bei ihren schwulen Vätern Harm und Marcel aufgewachsen, Jackie ist zwar ihre Leihmutter, doch nach der Geburt der beiden ließ sie sich nie wieder blicken.
So löst nun die Bitte, in die USA zu reisen und Jackie in eine Reha-Klinik zu bringen, gemischte Gefühle in den Schwestern aus: Fliegen fällt wegen eines geplatzten Trommelfelles aus und auch sonst weigert sich Jackie, ihren verfallenen Wohnwagen zu verlassen, so dass nur die Möglichkeit der konfliktreichen Fahrt mit diesem alten Klappergestell durch die kargen Weiten von New Mexico bleibt.
Beumer gelingt es im Laufe des Films immer mehr, die Charaktere, welche zunächst etwas reißbrettartig entworfen anmuten, mit Leben zu füllen und sie im Zuschauerherz zu verankern. Die tatsächliche Verwandtschaft der beiden Hauptdarstellerinnen, die dem ein oder anderen aus der Erfolgsserie „Game of Thrones“ bekannt sein könnten, trägt wohl ebenfalls zur Authentizität im Spiel von ihnen bei. Ein durchweg gelungenes Drehbuch begleitet die Reise der drei ungleichen Frauen, das stellenweise etwas „Thelma & Louise“-Luft atmet, aber gedämpfter bei den Charakteren bleibt, als zu einer Outlaw-Geschichte zu werden.
Zudem ist die Figurenkonstellation recht ungewöhnlich – sind es doch im Regelfall eher die Väter, die im Film durch Abwesenheit und Wortkargheit glänzen und sich auf der Reise über den Asphalt ihren verlorenen Söhnen widmen. „Jackie“ bricht mit diesem Klischee und zeigt Frauen, die aus der Rolle fallen und keine Lust verspüren, Erwartungen zu erfüllen, aber aufgrund ihrer gegenseitigen Solidarität schließlich einen großen Gewinn aus der Gemeinschaft ziehen können.
So unterläuft der Film ebenfalls traditionelle Ideen von Blutsverwandtschaft und familiärem Determinismus auf wunderbare Weise mit seinem äußerst originellen Ende, das den Zuschauer mit einem zeitgemäßen Statement (besonders in Hinblick auf Proteste gegen die Homo-Ehe) entlässt. Familie ist ein flexibler Begriff, er bezeichnet sämtliche Relationen, die uns hervorgebracht haben und er ist stets erweiterbar. Oder wie Sofie es sagen würde: Jede Mutter könnte meine Mutter sein. Was Verwandtschaft wirklich ausmacht, ist die Bereitschaft, einen Menschen wahrhaftig in sein Leben hinein zu lassen und ihn ein Stück des Weges zu begleiten.
(Silvia Bahl - biograph)