Seefeuer
Italien, Frankreich 2016, Laufzeit: 108 Min., FSK 12
Regie: Gianfranco Rosi
Darsteller: Samuele Pucillo, Mattias Cucina, Samuele Caruana
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Die Entscheidung für die Vergabe des Hauptpreises an „Fuocoammare“ auf der diesjährigen Berlinale setzte in zweifacher Weise ein Zeichen: Ein politisches, da der italienische Regisseur Gianfranco Rosi sich thematisch von mehreren Seiten der Situation in Lampedusa angenähert hat, welche kurz darauf als „Flüchtlingskrise“ auch unsere Geschichte verändern sollte – aber ebenso ein ästhetisches, da dokumentarische Formen in den großen Wettbewerben der Filmfestivals noch immer eine randständige Position einnehmen. So ist die doppelte Parteinahme für das Marginale ein umso gravierenderes Statement, das sich in jeder Hinsicht als verdient erweist.
„Seefeuer - Fuocoammare“ gehört zu den eindringlichsten und sehenswertesten Filmen des Jahres.
Gianfranco Rosi hat bereits vor zwei Jahren für eine kontroverse Sensation gesorgt, als in Venedig sein Film „Sacro GRA“ den Goldenen Löwen gewann. Keine große Narration, sondern kleine Ethnographien des italienischen Alltagslebens rund um den Autobahngürtel von Rom, das schien für viele Kritiker weder sehens- und erzählenswert.
Es ist aber genau ein solcher Zugang, der Rosis Arbeiten politisch macht, denn bei einem Film über die Schicksale der unzähligen Geflüchteten ist die Frage der Positionierung eine Gratwanderung. Man kann sich nicht anmaßen, daraus eine Story zu machen. Rosi schaut stattdessen von unten nach oben, er fängt im Kleinen, vermeintlich Banalen an, kommt so seinen Protagonisten nahe und bindet den Zuschauer in einen Mikrokosmos ein.
In diesem Falle handelt es sich dabei um die kleine Insel Lampedusa, die schon seit vielen Jahre medial zu einer Art Symbol der Flüchtlingsproblematik geworden ist. Dass es nicht leicht ist, die Katastrophe vor den Toren Europas zu verstehen, merkte Rosi rasch und richtete sich über Jahre dort ein, bis die Ereignisse den Film fast schon überholten.
So beantwortet er die Frage, was es eigentlich bedeutet, dass so viele Menschen, tot oder mit letzter Kraft, an jener Insel stranden, mit einem Blick auf die Einheimischen, denen er, in ethnographischer Manier, in den gewöhnlichsten Momenten folgt.
Natürlich sind dies trotzdem Dramaturgien, die sich nach und nach entfalten und dabei ihre ganz eigene Poetik entwickeln. Besonders stark wirkt dabei der Fokus auf einen kleinen frechen Jungen namens Samuele, dessen spielerische Zusammenarbeit mit Rosi den ganzen Film zu tragen vermag. Rosi folgt seinem nächsten Umfeld, den liebevoll und stoisch gepflegten Traditionen, dem kleinen Inselradio, bei dem der Moderator jeden Anrufer kennt. Das Lied „Fuocoammare“ wünscht sich eine ältere Frau und Samueles Großmutter erklärt, dass jenes Seefeuer die Gewalt des zweiten Weltkrieges meint, der auf gespenstische Weise ebenso anwesend ist, wie die Schiffe der Militärpatrouillen, welche die Kinder nahtlos in ihr Spiel integrieren. An diesem Saum löst sich die Geborgenheit des Alltagslebens auf, wenn der Tod auf eine nicht weniger gewöhnliche und dennoch erschreckende Weise immer mehr das filmische Bild dominiert. Ausgemergelte, verdurstete Körper liegen in Massen auf Rettungsschiffen, zwischen ihnen, in weißen Ganzkörper-Schutzanzügen, Helfer, die nur noch zudecken. Ärzte, die niemals werden vergessen können, was sie gesehen haben, und es jeden Tag wieder sehen müssen. Die Zähigkeit des Wartens, die zuvor noch die verschlafene Perspektivlosigkeit des alten Europas war, wird zur bedrohlichen Stasis einer Situation, die politische Konsequenzen fordert – und klar macht, dass nichts mehr so sein wird wie bisher, auch für uns nicht. Rosi gelingt es, die affektive Dimension eines Ereignisses zu fassen, von dem wir ahnen, das es historisch sein wird. Doch zunächst sind es die Gesichter der Anderen, die uns von der Leinwand aus ansehen.
(SILVIA BAHL)