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Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld

Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld
Portugal, Deutschland, Brasilien, Frankreich 2012, Laufzeit: 111 Min., FSK 0
Regie: Miguel Gomes
Darsteller: Teresa Madruga, Laura Soveral, Ana Moreira, Henrique Espírito Santo, Carloto Cotta, Isabel Cardoso
>> www.realfictionfilme.de/filme/tabu/index.php

In poetischen, ausdrucksstarken schwarz-weiß Bildern entwickelt der portugiesische Regisseur Miguel Gomes eine intensive Geschichte um verbotene Liebe und (koloniale) Schuld. Seine originelle Filmsprache in loser Reminiszenz an das gleichnamige Werk von F.W. Murnau, führt auf faszinierende Weise Ungleichzeitigkeiten zusammen und wurde auf der Berlinale mit dem Kritiker-Preis ausgezeichnet.

Das Wort „Tabu“ fand erst Anfang des 20. Jahrhunderts Einzug in die deutsche Sprache, im Zuge des Kolonialismus. Es stammt aus dem Polynesischen und bedeutet „heilig“ oder „unberührbar“. In die Filmgeschichte hielt der Begriff durch das Werk von F.W. Murnau Einzug, der 1931 seinen ausgezeichneten Stummfilm „Tabu“ präsentierte, halb Abenteuerfilm, halb ethnografische Studie der Südsee. Miguel Gomes schließt an das implizite Thema des Kolonialismus an und verhandelt die Vergangenheit des eigenen Landes, den afrikanischen Kolonien Portugals. Doch genau wie Murnau stellt er die Geschichte einer Liebe, die nicht sein darf in den Vordergrund. Mit einem mystischen Prolog beginnt er seine Hommage, über einen Soldaten der Kolonialen Armee, den der König ausgesandt hat, um das fremde Afrika zu erforschen. Doch den Mann plagen ganz andere Probleme: seine geliebte Frau ist gestorben und so begibt er sich mit seinem Gefolge an die Grenzen der bekannten Welt, um zu sterben. Vor den Augen seiner Leibeigenen geht er ins Wasser und lässt sich von einem Krokodil einverleiben. In deren Vorstellung wird er so selbst zu einem melancholischen Krokodil, das fortan vom Geist seiner Frau begleitet wird, ohne je mit ihr zusammen sein zu können. Diese poetische Episode offenbart bereits, dass es bei der kolonialen Geschichte nicht bloß um die Eroberung eines fremden Landes geht – sondern um Sehnsüchte, Begehrensstrukturen und dem Wunsch etwas anderes zu werden. All die entgrenzenden Momente, welche nur am „Ende der Welt“ möglich scheinen. Genau wie Murnau unterteilt Gomes seine Geschichte in die Kapitel „Das Paradies“ und „Das verlorene Paradies“, beginnt erzähltechnisch gelungen, mit dem melancholischen Teil der Gegenwart. Eine exzentrische alte Frau namens Aurora lebt mit ihrer schwarzen Pflegerin Santa in Lissabon, ihre Erscheinung ist mitleiderregend. Zwischen rassistischen Ausbrüchen, die in Wahn übergehen, wirkt sie mit ihren Pelzmänteln aus der Zeit gefallen, verliert durch ihre Spielsucht das ganze Vermögen und wird von ihrer einzigen Tochter gemieden. Stoisch erträgt die Bedienstete sämtliche Eskapaden und versucht stattdessen ihre Sprachkenntnisse zu verbessern – sie stößt auf eine Kinderbuch-Ausgabe von „Robinson Crusoe“ und beginnt sie zu lesen. Ein interessanter Kommentar von Gomes, der die tiefe Verwurzlung der kolonialen Fantasie in unserer Kultur aufzeigt. Die tiefreligiöse Nachbarin Pilar wiederum hat Mitleid mit der alten Frau; auch ihr Leben wird von der Sehnsucht bestimmt, hat sie doch nicht viel anderes als eine platonische Beziehung und regelmäßige Kinobesuche. So bleibt nur die Projektion als Lebensinhalt, das Helfersyndrom als Daseinsberechtigung. Pilar folgt der Bitte einen älteren Mann ausfindig zu machen und an das Sterbebett Auroras zu bringen, doch sie kommen zu spät. Katerstimmung, Leere und Einsamkeit dominieren den ersten Teil des Films ganz bewusst als Kontrast zu der sinnlichen Intensität der phantasmatischen Erinnerung an „das Paradies“, die jener alte Mann Pilar und Santa in einem surrealen Café voller Urwaldpflanzen offenbart: „Sie hatte eine Farm in Afrika“. Erinnerungen an Karen Blixen/Meryl Streep scheinen auf, doch Aurora ist eine andere Frauenfigur. Mutterlos aufgewachsen am Mount Tabu, tritt sie in die Spuren ihres Vaters und wird erfolgreiche Großwildjägerin, die sogar für Hollywood Filme engagiert wird, was ihr allerdings völlig egal ist. Selbst ihr Ehemann kann die Abenteuerlust der jungen, aber auch biestigen Frau nicht zähmen, nicht einmal durch extravagante Geschenke wie ein Baby-Krokodil, das wie ein Totem Auroras wirkt. Dieses flüchtet sich nämlich schon bald auf das Nachbargrundstück des Erzählers und markiert den Beginn einer Affäre, die viele Menschen ins Unglück stürzen wird. War der erste Teil noch auf 35mm gedreht, dreht Gomes den zweiten auf 16mm und unterlegt ihn komplett mit der Erzählerstimme des alten Ventura. In Dialogszenen hören wir die Geräusche der Umgebung, nicht aber die Stimmen der Darsteller, ein eigenwilliges Stilmittel, das Stummfilmreferenz ist und gleichzeitig der Mimik und Gestik Raum gibt, hinter der die Worte zurücktreten. Es ist bezeichnend, dass der Berg „Tabu“ eine Fiktion des Regisseurs ist, genauso wie die mystischen Landschaften Afrikas zur Neuerfindung der Protagonisten dienen: Der Playboy Ventura und seine Freunde können am Fuße des „Tabu“ all die Dinge ausleben, die ihnen in Europa unmöglich erschienen, die Kolonie bietet Raum für Exzess, Leidenschaft und ein Anders-Werden. Man könnte Gomes vorwerfen, dass diese Problematik zu sehr hinter der Liebesgeschichte zurück tritt, jedoch entdeckt man in Details sehr wohl die Auseinandersetzung mit dem Politischen, das von den Einzelschicksalen ja nicht zu trennen ist und sich möglicherweise in einem solchen fiktiven Rahmen erst wirklich offenbart. So ist auch der Schlusssatz mehrdeutig, wenn Aurora darauf Bezug nimmt, dass die Schuld zwar in der Erinnerung eines Menschenlebens endlich ist, nicht jedoch in der ewigen, stummen Erinnerung der Welt.

(Silvia Bahl - biograph)

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