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Titane

Titane
Frankreich, Belgien 2021, Laufzeit: 108 Min., FSK 16
Regie: Julia Ducournau
Darsteller: Vincent Lindon, Agathe Rousselle, Garance Marillier
>> titane-film.de/

Man kann sich schon fragen, was eigentlich los ist in Cannes im Moment. Schon PARASITE, der letzte Gewinner der Goldenen Palme vor zwei Jahren, war ja eine durchaus brutale Abrechnung und Provokation. Und nun folgt, als Gewinner in diesem Jahr, ein Horrormärchen über einer Frau, die Männer mordet und mit Autos schläft. Sicherlich nicht jedermanns/fraus Sache. Aber letztlich ist das doch ein Grund zur Freude: Hier wird noch reine Filmkunst prämiert, weitab von der Frage nach Massentauglichkeit. Und künstlerisch hat TITANE bei aller Provokation so einiges zu bieten.

Alexia macht schön früh eine prägende Erfahrung mit einem Auto und Metall. Als kleines Mädchen überlebt sie einen Unfall auf der Rückbank nur knapp, indem ihr eine Titanplatte in den Schädel implantiert wird. Einige Jahre später ist daraus eine Obsession geworden. Sie arbeitet als Go-Go-Girl bei Autoshows und fühlt sich dabei von den PS-strotzenden stählernen Kraftpaketen weit mehr angezogen als von den sabbernden menschlichen Testosteronbolzen. Als die Polizei langsam dahinter kommt, dass sie sich durchaus zu wehren weiß gegen die vielen Anmachversuche und sie in den Fokus der Ermittlungen in einer Mordserie gerät, taucht sie unter, in dem sie sich kurzerhand in einen Mann verwandelt – zumindest äußerlich. Als der scheinbar heimgekehrte verlorene Sohn kommt sie bei dem raubeinig gebrochenen Feuerwehrhauptmann Vincent unter, der sie ohne Umschweife unter seine Fittiche und in seine Truppe aufnimmt. Doch schnell regt sich Misstrauen unter ihren Kameraden, zumal sich ihr weiblicher Anteil immer weniger verbergen lässt: Sie ist schwanger! Doch von wem – oder von was?
Filmemacherin Julia Ducournau ist alles andere als zimperlich. Schon 2016 drehte sie mit ihrem Horrorschocker RAW über ein junges Mädchen, das seine Liebe zu rohem Fleisch entdeckt, dem Publikum in Cannes sprichwörtlich den Magen herum (gewann aber dennoch den FIPRESCI-Preis). Hier nun geht es, zumindest oberflächlich, um eine Verschmelzung von Fleisch und Metall, von Mensch und Maschine, von kaltem Stahl und sengendem Feuer, detailverliebt zelebriert in einem Rausch aus Sex und Gewalt. Das erinnert nicht wenige an David Cronenbergs CRASH, doch während Cronenbergs Filme eigentlich immer von einer emotionalen geradezu klinischen Kühle geprägt sind, überrascht TITANE einen immer wieder mit Momenten zutiefst menschlichen Dramas, in denen man den beiden Hauptfiguren allem Horror zum Trotz plötzlich seltsam nahe ist (was vor allem auch an den hervorragenden Darstellern liegt). So wird hier zum Beispiel immer wieder, selbst in den absurdesten Momenten, jemand zärtlich in den Arm genommen (auch inmitten eines Massakers). Hier wird Schutz gesucht, Halt und Geborgenheit, in einer tosenden Welt, die insgesamt aus den Fugen geraten scheint. Sex hat als Liebe ausgedient, ist eher auch Gewalt, doch eine Umarmung ist etwas anderes. Passend dazu spielt der Film mit den Geschlechterrollen, führt scheinbar typisch männliches und weibliches Verhalten vor, nur um es in seiner Hauptfigur Alexia zu vereinen und damit ad absurdum zu führen. Nicht zufällig wurde für diese Rolle ein/e junge/r Darsteller/in gecastet, die schon seit Jahren auf einer nichtbinären Geschlechtsidentität besteht. Ein Film also, der, auch wenn er zum Teil von wahrlich verrückten, unwirklichen Dingen erzählt, fest verankert ist im Jetzt – in einer letztlich ebenso verrückten Welt und Zeit, in der vieles hinterfragt wird und werden muss und in der emotionaler Rückhalt droht, zur Mangelware zu werden. Ein Aufschrei vielleicht.

(Daniel Bäldle)

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