We Need to Talk About Kevin
GB 2011, Laufzeit: 112 Min., FSK 16
Regie: Lynne Ramsay
Darsteller: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Jasper Newell
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Kindliche Unschuld ist sprichwörtlich. Oder etwa nicht? Filme wie „Rosemary’s Baby“ oder „Das Omen“ erzählen vom Gegenteil – und auf einer tieferen Ebene von Ängsten der Elternschaft. Dem schließt sich der formal-ästhetisch brillante „We need to talk about Kevin“ an: Darin versucht Tilda Swinton als Mutter eines Schulamokläufers verzweifelt zu begreifen, wie es zu der Tat kommen konnte und findet nur beunruhigende Antworten.
Rot ist die Liebe und rot ist das Blut. Immer wieder benutzt die schottische Regisseurin Lynne Ramsey jene intensive Farbe, um in einer assoziativen Montage die Erinnerungsfetzen der am Boden zerstörten Mutter Eva (Tilda Swinton) miteinander in Bezug zu setzen. Rotes Licht scheint durch das von einer Farbbombe verwüstete Wohnzimmerfenster und taucht ihr fahles Gesicht in einen unheimlichen Ton. Die Nachbarn grüßen sie nicht, auf der Straße wird sie von einer ihr fremden Frau geohrfeigt und beschimpft. Dabei hat alles einmal so idyllisch angefangen. Atemlos verliebt in ihren Mann Franklin (John C. Reilly) und erfolgreich als Autorin von Reisebüchern lebt sie in der Metropole New York, dann wird sie schwanger. Schon von Anfang an wird die ambivalente Haltung Evas gegenüber ihrer Mutterschaft deutlich; obwohl sie sich Mühe gibt, sich auf das Kind zu freuen, mag dies nicht so recht gelingen und schließlich entpuppt sich das Baby als dauerschreiender Alptraum. Doch irgendetwas scheint wirklich nicht mit dem kleinen Kevin zu stimmen – er spricht nicht, will sich nicht binden und starrt seine Mutter mit unverhohlenem Hass an. Alles Einbildung? Franklin kann die Ängste seiner Frau nicht nachvollziehen und auch die Ärzte halten Kevin für einen gesunden, süßen Jungen. Eva ist verzweifelt. Zu allem Übel besteht der glückliche Vater auch noch darauf, das schicke Apartment in der Stadt zu verlassen, damit der Kleine in der Vorstadt ein kindergerechtes Leben führen kann. Eva muss sich einen Job in einem Reisebüro suchen. Doch Kevin wird immer gemeiner und heimtückischer, je älter er wird und scheint sich als einziges Ziel gesetzt zu haben, seiner Mutter das Leben zur Hölle zu machen. Gegen den Willen von Franklin wird Eva erneut schwanger, diesmal mit einem kleinen Mädchen, in der Hoffnung, doch noch den Traum der perfekten Familie verwirklichen zu können. Doch Kevin wird nicht nur diesen zerstören…
Äußerst differenziert nähert sich Ramsay der Frage nach den Ursachen einer unfassbaren Gewalttat und hütet sich davor eine eindeutige Antwort zu geben. Durch die komplexe Erzählstruktur, in der sich Flashbacks und Traumsequenzen zu einer unbarmherzigen Gegenwart verdichten, bleibt offen, ob Kevins Entwicklung auf sein familiäres Umfeld zurück zu führen ist oder nicht. Ohne jegliche Schockeffekte ist „We need to talk about Kevin“ ein wahrhaftiger Horrorfilm, der den größte Alptraum verhandelt, den man als Elternteil haben kann; das nicht eingestehbare Gefühl, sein Kind im Grunde abzulehnen, die Furcht vor der Verantwortung und den Folgen der Erziehung, die nackte Angst, jene scheinbar so natürliche Liebe könnte nicht erwidert werden. In perfekten, fast rhythmisch komponierten Bildern entwirft Ramsey ein herausragendes und vielschichtiges Psychodrama, das nicht zuletzt wegen der wie immer grandiosen Tilda Swinton als Mutter am Abgrund äußerst sehenswert ist.
(Silvia Bahl - biograph)