„Dieser Preis ist nicht nur für mich. Ich denke, die Jury hat diesen Text auch ausgewählt, um ein Zeichen zu setzen gegen den Hass, für die Liebe, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden.“ Das sagt Kim de l´Horizon am 17. Oktober 2022 bei der Verleihung vom Deutschen Buchpreis. Danach summt ein Elektrorasierer. De l´Horizon rasiert sich aus Solidarität mit den Protesten im Iran den Schädel und meine Nachbarin, mit der ich die Verleihung online schaue, kneift keuchend in mein Knie. Der Deutsche Buchpreis ist eine der wichtigsten Auszeichnungen der Buchbranche. An jenem Tag geht er an de l´Horizons Roman „Blutbuch“ und zum ersten Mal an eine non-binäre Person.
Auch für mich ist „Blutbuch“ ein Leseerlebnis, das ich allen empfehle. Mein höchstpersönliches Lieblingsbuch ist dieses Jahr aber „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“, das Romandebüt von Yade Yasemin Önder. Ein Meisterinnenwerk in Sachen Tempo, Klugheit, sensitiver Komik bei absoluter Schonungslosigkeit und turbogenialer Sprachspielerei mit Knallersätzen wie „Ich hatte nun meinen Vater auf dem Gewissen, und man weiß ja, wie schwer so ein Vater ist.“ oder „In der Musik gibt es Pausen, die sind für die Toten, darin sprechen sie, nur hören die Lebenden sie nicht“. Der Roman erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich immer wieder verliert, immer wieder auseinanderfällt und sich immer wieder im Zusammensetzen versucht. Es ist ein Buch, das ich in den vergangenen Monaten oft mit dem großspurigen Versprechen „Dies ist das Gegenteil einer Nichtgeschichte“ angepriesen habe. Drei Exemplare für die Ichdachtewirschenkenunsnixtüte unterm Weihnachtsbaum habe ich schon vorbestellt.
Es gab da noch ein bedeutendes Debüt im Literaturkosmos, sogar direkt bei uns: PLOPP, das allererste Bilderbuch-Festival für Kinder und Kindgebliebene, fand im Oktober im Jungen Schauspiel statt und war ein Volltreffer. Wie wunderbar, dass Initiatorin und Buchladenbesitzerin Anja Urbschat-Happ verkündet: Nächsten Herbst wird das Ganze wiederholt - und dann einer Künstlerin gewidmet, nachdem in diesem ersten Jahr der Düsseldorfer Autor Martin Baltscheit im Mittelpunkt stand.
Noch eine Premiere saust auf uns zu: Die MTV Europe Music Awards werden am 13. November zum ersten Mal in Düsseldorf verliehen. Die Verleihung wird weltweit im Fernsehen und Internet zu sehen sein, erreicht voraussichtlich rund eine Milliarde Zuschauerinnen und Zuschauer und sorgt vermutlich für Superstars in der Stadt. Wir könnten uns also in der ersten Novemberhälfte gegenseitig ins Knie kneifen, während wir uns in der Hinkel-Warteschlange zwischen Harry Styles, Nicki Minaj und Rosalía auf ein Rosinenmürbchen freuen. Veranstaltet wird die Preisverleihung im PSD Bank Dome. Rund um das Spektakel finden mit der MTV Music Week vom 4. bis 12. November allerlei Veranstaltungen im Ratinger Hof, im zakk, in der Johanneskirche und an weiteren Orten statt.
Davor und mittendrin, nämlich vom 2. bis zum 6. November, feiert das New Fall Festival zehnjähriges Jubiläum. Rund um den Ehrenhof spielen Acts wie OG Keemo, Drangsal, Nouvelle Vague und Alice Merton Konzerte. Im Rahmen des Festivals wird es am 5. November in der Tonhalle zwei Talkrunden geben, bei denen es um Geschlechter(un)gleichheit auf Bühnen, in den Charts und bei Labels geht. Die Frage, welche Eingriffe für stabile Gleichberechtigung nötig sind, wird im Mittelpunkt der Gespräche stehen. Einlass ist um 15 Uhr. Der Eintritt zu den Panels ist frei. Gleich danach, vom 8. bis zum 11. November, folgt dann mit dem Approximation Festival die (für mich) verlockendste Mini-Sause der Saison. Das 2005 im Salon des Amateurs von Volker Bertelmann (Hauschka) und Aron Mehzion aus der Taufe gehobene Festspiel war ursprünglich gedacht, um Musikerinnen und Musiker, Komponistinnen und Komponisten in einem Projekt zu vereinen, das Grenzgänge auf dem Klavier wagt. Mittlerweile sind auch andere Instrumente am Start. Wer auf experimentelle und eigensinnige Klänge steht, ist hier an allen vier Tagen goldrichtig. Was auch immer Sie von alldem machen oder lassen, ich wünsche Ihnen von Herzen einen November, der Sie lesen, lauschen, staunen und verschnaufen lässt.
Sincerely and emphatically
Anne Florack
Wer mir schreiben möchte,
kann das übrigens hier tun: ouverture@biograph.de
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