„I don’t believe in God, but I miss him.“ Ein Schmettersatz. Einer, der tief drinnen eine Scheibe so geräuschvoll einschmeißt, dass es im Kopf jahrelang nachklirrt. Gesagt hat ihn der Schweizer Kinderchirurg Martin Meuli in einem Interview für das Wirtschaftsmagazin „brand eins“. Meuli ist Koryphäe seines Fachs. Als einer der Ersten weltweit hob er ein ungeborenes Kind aus dem Bauch der werdenden Mutter, um es zu operieren und anschließend erfolgreich wieder zurückzulegen.
Das Interview mit ihm fiel mir bei meinem alljährlich scheiternden Altpapiersortierprojekt in die Hände. Im zusammengerechten Leselaubhaufen lag außerdem ein Text von Ferdinand von Schirach, in dem er über die Begegnung mit einer ukrainischen Anwältin schreibt. Die Anwältin war Mitte 30 und müde. Sie hatte sich zum Schutz von Menschen in ihrem Land bereits mit paramilitärischen Einheiten, der russischen Föderation und Putin selbst angelegt. Meulis Satz hätte auch von ihr sein können. Auf Ferdinand von Schirachs Frage, warum sie das alles auf sich nähme, antwortete sie: „Wer soll es sonst tun?“ Der Text erschien 2018. Das ist vier Jahre her. In ihrem Mut zum Tun steckt auch Mut zur Umwälzung, zum Andersdenken. Was sollen und können wir mit unserer Gegenwart tun, damit sie ein gutes Gestern wird?
Neulich, das ist schon ein paar Jahre her, verbrachte ich notgedrungen viel Zeit mit Chirurgen. Eine Psychologin schlug bei einem Gesprächstermin vor, ich solle mir etwas Bedeutsames in der Zukunft vorstellen, das ich unbedingt erleben möchte und das Erlebnis dann bestmöglich vorbereiten. Ich dachte damals sofort an ein Konzert meiner Lieblingsband. Tickets orderte ich noch am selben Tag im Klinikbett auf der Krebsstation. Acht Monate später stand ich im Publikum. Das Konzert war mittelmäßig, aber das war egal. Die bloße Vorstellung von einem Kulturerlebnis hatte mich genau zur richtigen Zeit mit der nötigen Tapferkeit und zähen Energie versorgt, die ich brauchte, um den Krieg in meinem Körper zu überstehen. Kunst ist Seelsorge. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf blicke ich auf eine wichtige Entscheidung, die diesen Monat in Düsseldorf ansteht: Am siebten April wird voraussichtlich Miriam Koch für acht Jahre unsere neue (und grüne) Kulturdezernentin. Oberbürgermeister Stephan Keller schlug sie persönlich vor. Die Zustimmung des Stadtrates gilt als sicher. Das Jahr, in dem von Schirachs Text über die ukrainische Anwältin erschien, war übrigens jenes, in dem Miriam Koch in Düsseldorf das Amt für Migration und Integration zu leiten begann. Vorher war sie Düsseldorfs erste Flüchtlingsbeauftragte. Das Amt, das sie nun leiten könnte, wird passenderweise nicht nur für Kultur, sondern – das ist neu – auch für Integration zuständig sein. Ich hoffe auf Frau Koch als mutige und beherzte Morgenmacherin in beiden Bereichen.
Oh, fast hätte ich vergessen zu erzählen, dass der weltberühmte Chirurg eigentlich Opernsänger werden wollte. Das Aufnahmeverfahren beim Opernhaus Zürich bestand er, entschied sich aus Gründen dann jedoch gegen die Oper und für den Operationstisch. Über Musik sagt er nach wie vor, sie sei „ein Lebenselement allererster Güte und Priorität, Grund zur Freude und zum Trost im Gleichen, ungemein bereichernd, so wichtig, dass die Vorstellung, es gäbe sie nicht, unstatthaft ist“. An der medizinischen Fakultät in Zürich gründete er deshalb, na klar, einen Chor. Bei einer Probe begegnete ihm seine heutige Frau. Vielleicht glaubt Meuli nicht an Gott, wahrscheinlich auch nicht an Wunder, an die wirksame Wucht von Kultur aber ganz bestimmt. Mir hat sie nichts Geringeres als mein zweites Leben gerettet.
Sincerely & emphatically
Anne Florack
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