Ich komme nach Hause und mein Bücherregal ist kollabiert. Wo vorher Einband an Einband stand, ist nur noch Wand. Am Boden liegt Sibylle Berg neben Didion unter Leky über Hesse dicht an Frisch hinter Barthes zwischen Kaléko und den Grimms. Ich würde schwindeln, wenn ich Ihnen erzählte, dass das überraschend passierte. Ich kann mich von Büchern schwer trennen, und die Regalböden bogen sich seit Monaten. Ich greife nach den ziemlich zerlesenen Kinder- und Hausmärchen, beginne zu blättern und lande bei „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“. Sie erinnern sich an das kleinste Ziegenkind, das überlebt, weil es sich im Uhrenkasten versteckt, um im richtigen Moment wieder aufzutauchen und gemeinsam mit seiner Mutter die Geschwister aus dem Wolfsbauch zu befreien. Ein strategischer Rückzug ins sichere Versteck, um rechtzeitig und mit tatkräftiger Hilfe Gutes zu tun – wie smart ist das denn?
Ich muss an Maria Schraders Film „She Said“ denken, der am 8. Dezember startet. 2017 enthüllte eine Reportage in der New York Times, dass Hollywood-Produzent Harvey Weinstein über Jahrzehnte Frauen sexuell belästigte. Dass das ans Licht kam, ist den Opfern zu verdanken, die sich trotz aller Risiken und nach langem Rückzug trauten, ihre Erfahrungen mit den Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey zu teilen. „She Said“ basiert auf dem gleichnamigen von Kantor und Twohey veröffentlichten Sachbuch zum Fall. Das Offenlegen des Machtmissbrauchs markierte vor fünf Jahren einen Punkt, an dem das Schweigen über Belästigungen in der Filmbranche gebrochen und die #MeToo-Bewegung geboren wurde. Passenderweise geht es im Film nicht in erster Linie um Weinstein, sondern um das Stehvermögen der Journalistinnen und die Courage der Schauspielerinnen und Angestellten, die auspackten. Natürlich werden solche Verbrechen nicht bloß in Hollywood begangen. Jede meiner und gewiss auch jede Ihrer Freundinnen erlebt auf nächtlichen Heimwegen, im Fahrstuhl, Bus und Vorstellungsgespräch 50 Shades of Machtmissbrauch. Der Wolf ist noch lange nicht tot.
Jetzt ist Weihnachtszeit. Ferienzeit. Aber sind Pausen in einer Gegenwart, die derart ruckelt, überhaupt angemessen? Hier wieder: das siebte Geißlein. Meine Strategie für inneren Frieden war stets und ist noch heute das Eintauchen in Geschichten, in Musik, in Filme und Kunst. Rückzug in den Kultuhrenkasten sozusagen. Vielleicht ist das Eskapismus, vielleicht meine Form von Besinnlichkeit gegen die Laufmaschen im Befindlichkeitsgewebe. Manchmal ist Rückzug das Beste, was wir tun können, um Kraft zu sammeln. Trotz allem. Wegen allem. Und falls sich die Besinnlichkeit Zuhause nicht einstellen will, gehen Sie ins Kino und schauen Sie sich „She Said“ an.
Nach dem Regalunfall habe ich mich von dutzenden Büchern verabschiedet und sie zu einem offenen Bücherschrank gebracht. Als ich „Das scharlachrote Kampfhuhn“ von Helge Schneider neben ein Schmortopf-Rezeptbuch schiebe, sehe ich in der Reihe darunter Christoph Schlingensiefs „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ – das Buch, was er tödlich erkrankt schrieb. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann, dass dieser Satz wieder wahr wird.
Frohe Weihnachten, Düsseldorf. Auf neue Kraft im nächsten Jahr und auf ein himmlisches Hier.
Sincerely & emphatically
Anne Florack
Wer mir schreiben möchte,
kann das übrigens hier tun: ouverture@biograph.de
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