Als Kind fürchtete ich mich vor Gras. Weil meine Oma das wusste, breitete sie, bevor wir uns auf Weiden oder Wiesen niederließen, das Polster ihrer Hollywoodschaukel unter mir aus. Sie hatte es immer dabei, mein Refugium aus Polyester und Kaltschaum in der Größe einer Europalette. In dieser Zone gab es keine Angst, nur Geborgenheit. Während die anderen, die kühnen Kinder knallvergnügt zwischen Holunderbüschen, Klatschmohn und Rhododendren tobten, lag ich dort auf dem Bauch, las und schrieb.
Zum Studieren zog ich nach Düsseldorf. Hier war keine Oma und kein Kissen, allerdings ein bisschen Hollywood, zumindest in den Filmkunstkinos. Eine gute Freundin arbeitete im Metropol an der Brunnenstraße. Wir saßen in jener Zeit bis in die Spätvorstellungen gemeinsam im Foyer, aßen übriggebliebenes Popcorn, sprachen über schweren Mut und schwache Stellen, über Pleiten und Popkultur und manchmal auch gar nicht. Wenn sie zu tun hatte und ich nicht allein sein wollte, nahm ich mir den biograph, der zuverlässig in Griffnähe lag, setzte mich auf die Stufen und las. Mit manschendem Kugelschreiber umkringelte ich Filme, die ich dringend schauen wollte, kritzelte Notizen neben Ankündigungen und merkte mir, was ich Bekannten empfehlen musste. Wenn alles erledigt war, stiegen wir gemeinsam die Treppe hinauf zum Ausgang. An der gläsernen Doppeltür umarmten wir uns und sagten meine allerliebsten Abschiedsworte: „Bis morgen“.
In keiner anderen Phase meines bisherigen Lebens konnte ich wirkungsvoller mit Kultur- und Kinowissen prahlen. Seitdem ist der Klang von Blitz und Donner für mich längst kein Signalton mehr für aufziehendes Gewitter, sondern für Alfred Hitchcocks (im Körper von Anthony Hopkins) freundliche Ermahnung: „Please silence your mobile phone before it makes everyone psycho“.
Seit Kurzem lebe ich in einer Wohnung in Friedrichstadt, die meine Freundinnen und Freunde als „Maßanfertigung“ beschreiben. Nicht etwa weil sie extra für mich gebaut wurde (Wer soll das bezahlen?), sondern weil sie so überschaubar ist, dass exakt einmal Anne hineinpasst: meine Dackellampe, Bilder, Schallplatten, Gitarren, Bett, Tisch, Kaffeekocher, drei Stühle, Bücher. Hier kann ich tun, was ich damals auf dem Kissen im Gras und später auf der Kinotreppe tat, wenn ich Entgrenzung suchte, wenn ich Zeit und Raum ausdehnen, wenn ich in Gedanken gefahrlos herumtoben wollte: lesen und schreiben. Dass ich Letzteres nun ausgerechnet für jenes Magazin machen darf, das in meinen frühen Düsseldorf-Jahren ein Ausweg aus der akademischen Übellaunigkeit war, ehrt mich ungemein.
Mit der freundlichen Übernahme dieser Ouvertüre trete ich ein güldenes Erbe an. Ich danke meinem Vorgänger Hans Hoff für seine unnachahmlichen Texte und die feierliche Staffelübergabe in seinem Abschied The Last Waltz. Christian, Alexander und Veronika, die meine Premiere vorab lasen, danke ich für Anregungen und Zuspruch. Der Redaktion des biograph danke ich von Herzen für das entgegengebrachte Vertrauen. Meine Oma wäre überglücklich, wenn sie sähe, dass ich mich auf diese Spielwiese wage.
Sincerely & emphatically
Anne Florack
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