Schwarze Ballettkleider waren bei Frau Seifert verboten. Das konnte ich nicht ahnen, als ich sechs und zum ersten Mal mit meiner Oma im Ballettladen war, ein pantherschwarzes Stück Stoff sah und es haben wollte. Ich bekam es und in der ersten Trainingsstunde tüchtig Ärger. Frau Seifert trug Dutt und ein Brillenband, als sie mir brüllend klarmachte, dass in ihrem Unterricht ausschließlich Rosa und Weiß getragen werde. Noch beim Abschlussknicks zitterten meine bestrumpfhosten Knie. Ich hielt die Tränen zurück und meine Oma holte mich nach der Stunde ab. Auf der Rückbank in ihrem Mazda rutschte es dann raus: „Ich bin falsch!“ Sie zog die Handbremse und schaute mich durch den Rückspiegel an. „Alle sind richtig“, brummte sie. Während die Liebe zu meiner Oma wuchs, war die zum Ballett seit diesem Tag beschnitten. Weil das Leben aber manchmal will, dass man den Zweifel anzweifelt, habe ich vor kurzem einen neuen Job angenommen – als Scout für Oper und Ballett an der Deutschen Oper am Rhein. Das bedeutet unter anderem, dass ich bei den Premieren vor Ort bin, Einblicke in den Alltag der Spielstätte, Tanz-Compagnien und Akteur:innen bekomme und mich mit anderen Scouts über all das austauschen darf.
Als die neue Spielzeit begann und ich meine Wohnung Richtung Heinrich-Heine-Allee verließ, um meinen ersten Dienst anzutreten, war es draußen mild. Ich ging zu meinem Lieblingsbüdchen, weil ich auf dem Weg zu Macbeth das letzte Eis des Sommers essen wollte. Vor dem Kiosk standen Leute. Wir wechselten ein paar Worte, und ich erzählte, was ich vorhatte. „So lassen die dich da rein?“, fragte einer und deutete auf meine weißen Sneaker. Ich dachte den ganzen Weg darüber nach. Nicht, weil ich fürchtete, dass seine Skepsis berechtigt war, sondern wegen des Wörtchens „die“. Das war nicht bloß ein Wort. Es war eine Trennungslinie.
Düsseldorf wird, so hat es der Stadtrat Ende 2021 beschlossen, für viele Millionen Euro ein neues Opernhaus bauen. Während ich vor allem den Streit um den Standort – Kaufhofgrundstück am Wehrhahn oder weiterhin Heinrich-Heine-Allee – wahrnahm, beschäftigt mich spätestens seit der Sneaker-Situation die Frage, welche neuen Konzepte es braucht, um das Programm der Oper niedrigschwelliger zu organisieren, das Repertoire reizvoll für (junge) Neulinge zu gestalten und die Sperre im Kopf ebenjener zu entriegeln, die fürchten, sie und ihre Turnschuhe seien im Haus unerwünscht. Wie kann die Oper die Kraft des gespannten Bogens für Veränderung nutzen? Mit dem Projekt UFO zeigen Düsseldorf und Duisburg im Kleinen, dass sie das Bauen neuer Begegnungsräume längst draufhaben. Das UFO ist eine mobile Spielstätte und ein urbanes Klanglabor, das auf der Straße aufgebaut werden kann und wie ein Adapter funktioniert. Da kann beispielsweise ein Bauwagen mit Tonstudio angekoppelt und genutzt werden, um in der Stadt Stücke mit jungem Publikum zu entwickeln und neuen Ideen eine Bühne zu geben.
Der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler Joseph Vogl schreibt in seinem Buch „Über das Zaudern“ von Schwellen zwischen Handeln und Nichthandeln. Er beschreibt sie als „Zwischenraum rein schöpferischer Potenz“. Raum für soziale und kulturelle Utopien schaffen – das ist jetzt, in dieser Schwellensituation der Oper, möglich und entscheidend. Mein Tagtraum: Die neue Oper als einladende Agora mit Arien für alle, denn alle sind richtig.
Ich wünsche Ihnen beherztes Zaudern und klangvolle Tagträume.
Sincerely and emphatically
Anne Florack
Wer mir schreiben möchte,
kann das übrigens hier tun: ouverture@biograph.de
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