Zum ersten Male fand die Berlinale digital statt, und die Festivalleitung will die wichtigsten Filme in einem Präsenz-Festival im Juni nachholen. Dass ein solches Online-Festival kaum ein Ersatz für ein physisches Festival vor Ort sein kann, liegt auf der Hand. Wir haben schon die feierlichen Premieren, die Pressekonferenzen mit den Filmschaffenden und natürlich die Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen über Film und Kino vermisst. Aber es gab auch Vorteile, so funktionierte die Technik einwandfrei, die Filme wurden morgens um 7 Uhr auf einem eigenen Presseserver zur Verfügung gestellt und konnten bis zum anderen Morgen angeschaut werden. Die Wege zwischen zwei Vorstellungen führten nicht quer durch Berlin, sondern waren nur einen Mausklick voneinander entfernt.
Den Goldenen Bär gewann BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN, dessen ausgedehnt pornografische Anfangssequenz einen Kinobetreiber den unmittelbaren Auszug eines Teiles des Publikums befürchten lässt. Ema ist die Protagonistin dieses kleinen, schmutzigen Homevideos, sie ist Lehrerin und sollte ein Vorbild sein. Ihr Pech ist es, dass das Video irgendwie viral geht und natürlich sogleich von ihren Schülern entdeckt wird. Der eigentlich Porno findet dann aber am Ende des Films statt, wenn sich die Lehrerin in einem flugs einberufenen Elternabend gegen den latenten Sexismus, Rassismus, Faschismus und religiösen Wahn der zur feinen Gesellschaft zählenden Elternschaft zur Wehr setzen und um ihren Job kämpfen muss.
Radu Jude erzählt diese Geschichte in einem nicht leicht zugänglichen Triptychon. Changierend zwischen Dokumentar- und Essayfilm, führt er uns 25 Jahre nach dem Ende der Diktatur eine rumänische Gesellschaft vor, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit zerrissen ist.
Unser Favorit für den Goldenen Bären war der iranische Beitrag BALLAD OF A WHITE COW. Damit hätte die Jury die schöne Tradition fortsetzen können, die iranischen Filmen in Berlin immer schon mehr Aufmerksamkeit verschafften als im eigenen Land, wo die Regisseure meist mit Berufsverbot und Hausarrest zu kämpfen haben. So wohl auch Mohammad Rasoulof, der im letzten Jahr mit DAS BÖSE GIBT ES NICHT - immer noch auf seinen Einsatz in unseren Kinos wartend - gewonnen hat. Er hat den Staffelstab an Behtash Sanaeeha und Maryam Moghadam übergeben. Ihr Film könnte auch eine Fortsetzung sein, denn er behandelt ebenfalls das Thema Todesstrafe und konstruiert einen Fall, in dem sich der Liquidierte im Nachhinein als unschuldig erweist. Dabei nehmen sie kein Blatt vor den Mund und dokumentieren minutiös das staatliche Versagen. Ihr Richter ist ein hoch moralischer Mensch, der sich sein Fehlurteil nicht verzeihen kann und Buße tun will. Er hat sein Amt nieder gelegt, besucht die Witwe und gibt sich als vermeintlicher Schuldner ihres Mannes aus, um ihr so etwas Geld zukommen lassen zu können. Doch sein Wunsch, Buße zu tun, bringt ihn bald in Konflikt mit dem System, das Fehlurteile eher als Gottes Willen Interpretiert.
Schuld und Sühne – das ist ein klassisches iranisches Filmsujet, das die Regisseure meisterhaft und als Kino der kleinen, präzisen Gesten inszenieren. Immer wieder findet das Iranische Kino Figuren wie diesen integren Richter, der die Werte hochhält, die der modernen Gesellschaft immer mehr abhanden kommen. So wird das Kino zu einer moralischen Instanz, die dem Zuschauer Halt und Orientierung gibt. Dass es dabei immer wieder mit den Behörden in Konflikt gerät, spricht seine eigene Sprache.
Eine ganz eigene Mutter-Tochter-Geschichte erzählt Céline Sciamma, die 2019 mit PORTRÄT EINER FRAU IN FLAMMEN nachdrücklich auf sich aufmerksam machte. In PETITE MAMAN hilft die achtjährige Nelly ihren Eltern, nach dem Tod der geliebten Großmutter beim Ausräumen deren Hauses auf dem Land, wo ihre Mutter Marion die Kindheit verbrachte. Magisch angezogen ist sie von dem umliegenden Wald, in dem damals auch ihre Mutter spielte und ein Baumhaus baute, von dem Nelly soviel gehört hat. Immer wieder streift sie durch den Wald, bis sie eines Tages auf ein gleichaltriges Mädchen trifft, das sie in ihr Baumhaus einlädt und auch Marion heißt...
Wenn die Geschichte auch schnell erzählt und der Film nur gut siebzig Minuten lang ist, entwickelt er eine Stimmung, die nicht nur Nelly, sondern auch den Zuschauer in diesen Wald zieht. Märchenhaft entrückt und mit kongenialen Bildern ihrer Kamerafrau Claire Mathon, spürt Sciamma hier mit einer Art magischem Realismus einem wichtigen Moment des Erwachsenwerdens nach und führt uns einmal wieder in den Mittelpunkt eines weiblichen Universums, dessen Aura man sich nicht entziehen kann.
Auch wenn man durchaus von einem starken Jahrgang sprechen kann, sollte man sich natürlich nichts vormachen, denn starke internationale Produktionen mit bekannten Stars wurden von den Produzenten für eine virtuelle Festivalausgabe natürlich nicht freigegeben. Die Festivalmacher reagierten darauf mit einem Bekenntnis zum Deutschen Film, der in allen Sektionen überproportional vertreten war und sich als erstaunlich innovativ und kinogerecht erwies.
So ging der Silberne Bär für die beste schauspielerische Leistung an Maren Eggert, die in Maria Schraders ICH BIN DEIN MENSCH die Archäologin Alma spielt, die sich auf ein Experiment einlässt, um an Gelder für ihre eigenen Studien zu kommen. Drei Wochen lang soll sie mit einem Roboter namens Tom zusammenleben, der Dank künstlicher Intelligenz all ihre Partnerwünsche erfüllen soll. Wie ernst sie diesen Job nimmt, zeigt sich schon beim ersten Treffen der beiden beim Kennenlern-Candlelight-Dinner, wo Alma ihr Gegenüber mit einer komplexen Rechenaufgabe überrascht, die Tom wie aus der Pistole geschossen löst. Romantik bleibt an diesem Abend Fehlanzeige, wie Alma auch auf getrennten Schlafzimmern besteht und allen Annäherungsversuchen Toms widersteht. Doch der stellt sich auf jede Situation neu ein und überrascht mit immer neuen Ideen und Wendungen. Maria Schrader lädt die gleichnamige Erzählung von Emma Braslavsky mit der Suggestivkraft des Kinos auf und versichert sich der Mitarbeit von Jan Schomburg, die den Dialogen eine ungewöhnliche Tiefe gibt. Erstaunlich vielseitig und eloquent erzählt sie so von einer ‘amour fou’ mit einem Androiden, die immer wieder zwischen amüsanter Komödie und philosophischer Betrachtung wechselt und nach dem Begriff Glück fragt.
Unseren ausführlichen Festivalbericht finden Sie wie immer in unserem Blog auf www.filmkunstkinos.de.
EYES ON JAPAN: 18. JAPANISCHE FILMTAGE DÜSSELDORF
Filmreihe 8. – 29.1. im Filmmuseum Düsseldorf
CINEMA RESTORED
2.1. & 5.1. im Filmmuseum Düsseldorf
Stummfilm + Musik
25.1. im Filmmuseum Düsseldorf
WE COULD BE HEROES - Part II
Fortsetzung der im November begonnenen Filmreihe 6.11. – 29.12. im Filmmuseum Düsseldorf
DEBUTFILME - Part II
Fortsetzung der im November begonnenen Filmreihe 9.11. – 28.12. im Filmmuseum Düsseldorf
ZUM 10. TODESTAG VON LUISE RAINER
MO 30.12. im Filmmuseum Düsseldorf
WE COULD BE HEROES
Filmreihe 6.11. – 29.12. im Filmmuseum Düsseldorf
DEBUTFILME
Filmreihe 9.11. – 28.12. im Filmmuseum Düsseldorf
Filmfest Venedig 2023
Ein Vorbericht von Kalle Somnitz
LAST PICTURE SHOWS IM SOUTERRAIN
29. & 30.6. im Souterrain
Die 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke
Oscar goes Streaming
Ein Bericht von Eric Horst
Filme, auf die wir uns freuen können
77. Filmfestspiele Venedig 2020
Die 76. Internationalen Filmfestspiele von Venedig
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz, Silvia Bahl und Anne Wotschke
72. Festival de Cannes
Ein Vorbericht von Kalle Somnitz
Die 75. Filmfestspiele in Venedig
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz, Silvia Bahl und Anne Wotschke
Die 71. internationalen Filmfestspiele in Cannes
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke
Die 71. Filmfestspiele Cannes
Ein Vorbericht von Kalle Somnitz
Katja Riemann und Ingrid Bolsø Berdal mit viel Spielfreude
Filmstarts der Woche (7. - 14. Dezember)
Modernes Aschenputtel
Filmstarts der Woche (30. November - 6. Dezember)
Mitreißend aufspielende Diane Kruger in Fatih Akıns Aus dem Nichts
Filmstarts der Woche (23. - 29. November)
Forderung für ein neues politisches Bewusstsein
Filmstarts der Woche (16. - 22. November)
Mint-Töne der 1960er
Filmstarts der Woche (9. - 15. November)