Das Fehlen der ganz großen Namen beim diesjährigen Festival in Cannes ließ einerseits bereits im Vorfeld einen schwachen Jahrgang befürchten, bot aber auch die Chance für Regisseure aus der zweiten Reihe nach vorne zu rücken. So gewann mit Hirokazu Kore-Eda ein Cannes-Stammgast die Goldene Palme, dessen internationaler Durchbruch noch aussteht. Mit SHOPLIFTERS variiert er ein von ihm bevorzugtes Thema: Die Familie. Waren es bisher typische Patchwork-Familien, die er beschrieb, geht er jetzt einen Schritt weiter, denn hier sind die Familienmitglieder nicht einmal miteinander verwandt. Die Eltern haben sich nach gescheiterten Beziehungen zusammengetan und mit der Oma die Rente gegen Fürsorge und Unterkunft getauscht. Die erwachsene Tochter ist ein Strip-Girl, den heranwachsenden Sohn haben sie kurzerhand entführt und das jüngste Mitglied, das kleine Mädchen Hojo, gerade erst bei sich aufgenommen, weil sie von ihrer Familie vernachlässigt und offensichtlich misshandelt wurde. Sie leben unter ärmsten Bedingungen am Rande Tokios und trotz Omas kleiner Rente, reicht das Einkommen der anderen nicht aus, so dass der Vater mit dem Sohn regelmäßig auf Raubzug durch die Lebensmittelläden gehen muss. Kore-Eda gelingt ein bewegendes Porträt dieser ungewöhnlichen Familie, die von ihrer Armut genauso gekennzeichnet ist, wie von ihrem fürsorglichen Miteinander. Auch wenn sich am Ende Risse in dieser Familie zeigen und sie von den Sünden der Vergangenheit eingeholt wird, verurteilt Kore-Eda sie nicht, sondern stellt ihnen die Sünden der modernen Gesellschaft gegenüber, gemäß dem Motto: “Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.”
Von einem großen Familientreffen erzählt auch Asghar Farhadis EVERYBODY KNOWS, der das Festival eröffnete. Der iranische Regisseur hat erstmals komplett in Spanien gedreht und erzählt von Laura (Penélope Cruz), die in Argentinien lebt und mit ihrer Tochter Irene zur Hochzeit ihrer Schwester nach Hause in ein spanisches Weinbaugebiet kommt. Was beginnt wie ein typischer Familienfilm, entwickelt sich in Richtung Thriller, als Irene während der Feierlichkeiten entführt wird. Man beschließt die Polizei rauszuhalten und das Problem intern zu lösen. Es steht eine Lösegeldforderung im Raum, die nur zu erbringen ist, wenn Paco (Javier Bardem) sein Weingut verkauft. Mit dem ehemaligen Vorarbeiter ihrer Eltern hatte Laura ein Verhältnis und vermachte ihm das etwas heruntergekommene Anwesen vor ihrer Abreise, viel zu billig, meinen die anderen Familienmitglieder, genauso wie die Angestellten. Lauras Erscheinen nach so vielen Jahren ruft Erinnerungen wach, die längst vergessen waren und nun Eitelkeiten und Besitzansprüche offenbaren. Durch Penélope Cruz’ intensive Darstellung einer Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs liegen die Nerven bald blank, sowohl in der Familie, wie auf dem Dorf, und allmählich steigert sich die Vermutung, dass in dieser Familie nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter zu finden sind.
Auf der Pressekonferenz bekundete Farhadi nochmal die Solidarität mit seinem Landsmann Jafar Panahi, der im Iran unter Hausarrest steht und trotz Berufsverbot die europäischen Festivals immer wieder mit neuen Filmen bestückt. In Berlin gewann er zuletzt mit TAXI TEHERAN den Goldenen Bären und nun legte er mit THREE FACES ein beeindruckendes Generationen-Porträt vor, das ex aequo mit HAPPY AS LAZZARO für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde. Panahi spielt wieder selbst eine Hauptrolle und verlässt dabei kaum sein Auto, das er schon für seinen letzten Film zu einer Art mobilem Filmstudio umgebaut hat. Vielleicht verstößt er ja so nicht gegen den Hausarrest. So folgt er seinen Protagonisten nicht, sondern lässt sie lieber ans Auto treten, nimmt sie ein Stück mit oder beobachtet sie auch nur. Dass so ein aktueller Einblick in die iranische Gesellschaft gelingen kann, wissen wir bereits und wenn er jetzt auch noch eine spannende Geschichte über drei Generationen und drei Frauen erzählt, mag das ein aus der Not geborenes Genre generieren. Jedenfalls fährt er eine gute Kollegin, die bekannte Fernseh-Schauspielerin Behnaz Jafari, in ein Dorf an der Grenze zu Aserbaidschan. Die beiden folgen einem mittels Videobotschaft übermittelten drastischen Hilferuf eines Mädchens, das eine Zusage für ein Schauspielstudium erhalten hat, doch ihre Eltern wollen sie lieber entsprechend der Tradition verheiraten. Hat sie sich wirklich, wie das Video suggeriert, aus Verzweiflung umgebracht? Im Dorf angekommen, um der Sache auf den Grund zu gehen, bringt Panahi noch eine dritte Frauengeneration ins Spiel. Shahrzad, vor der Revolution eine bekannte Schauspielerin und seit mehr als drei Dekaden mit einem Berufsverbot belegt, taucht nur als Silhouette auf. Panahi hat mit minimalen Mitteln eine starke Ode an die Kraft der Frauen geschaffen, die sich trotz aller Hindernisse nicht unterkriegen lassen und für ihre Emanzipation kämpfen. Sein Stuhl bei der Pressekonferenz blieb einmal mehr demonstrativ leer.
Auch Kirill Serebrennikov, durfte nicht anreisen, weil er in Russland in Untersuchungshaft sitzt. Da alle Bemühungen des Festivals scheiterten, verwendete sich die französische Administration für seine Anreise direkt bei Putin, der zynisch verlauten ließ, dass er da gar nichts machen kann, weil die russische Justiz vollkommen unabhängig sei. Sein neuer Film LETO - eine liebevolle Hommage an die Underground-Musikszene im Leningrad der frühen achtziger Jahre kurz vor der Perestroika - wusste dennoch zu überzeugen und markierte einen ersten frühen Höhepunkt des Festivals. Im Mittelpunkt steht der Aufstieg des jungen Viktor Tsoi, den es tatsächlich gegeben hat, und der zu den beliebtesten und bekanntesten Musikern des Landes zählte, bis ihn ein Autounfall mit 28 Jahren aus dem Leben riss. Sein großes Vorbild: der etablierte Rockmusiker Mike Naumenko, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihn mit dem Musikstil des Westens – David Bowie, Lou Reed, T. Rex; Led Zeppelin und Blondie – bekannt macht. Doch Viktor will mehr sein als nur eine Kopie. Schon früh fällt der Russe mit koreanischen Wurzeln durch seine poetischen Texte auf, die Systemkritik üben und dabei ganz nah an den Menschen bleiben. Viktor findet im Laufe des Films seine eigene Stimme, die von ihm gegründete Band wird zum Sprachrohr einer sich nach Freiheit sehnenden Jugend. All dies fängt Serebrennikov ein in eleganten Schwarz-Weiß-Bildern im Normalformat (1:1.33), die zuweilen unterbrochen werden durch bunte Traumsequenzen im Stil früher MTV-Videos. Trotz der Inhaftierung seines Regisseurs soll der Film in Russland im Sommer in den Kinos starten und hoffentlich auch bei uns.
Wie im seinem oscar-prämierten Meisterwerk IDA, drehte der Pole Pawel Pawlikowski auch wieder im ungewöhnlichen schwarzweißen Normalformat. COLD WAR erzählt die Geschichte eines Paares, Wiktor und Zula, das sich beim Vorsingen einer Musik- und Tanzgruppe in den fünfziger Jahren zur Zeit des Kalten Krieges kennen- und lieben lernt, und doch nicht glücklich wird. Inspiriert wurde der Regisseur durch die Geschichte seiner eigenen Eltern, die ein ähnliches Schicksal ereilte. Wie schon in LETO spielt die Musik hier eine tragende Rolle. Sie reicht von Volksmusik bis Jazz und spiegelt den Wandel der Gefühle und Stimmungen. Weil er für sich und seine Freundin im Westen auf größere Freiheiten hofft, setzt sich Wiktor nach Paris ab, wohin ihm Zula später folgt. Doch der Sehnsuchtsort kann auf Dauer ihre Erwartungen nicht erfüllen, die Liebe hat sich abgenutzt und Zula kehrt schließlich zurück nach Polen. All dies erzählt Pawlikowski durch gezielte Schnitte extrem verdichtet, fast schon in Tableaus. Belohnt wurde er für seine Leistung mit dem Preis für die beste Regie.
Eine ungewöhnliche Lebensgemeinschaft zeigt Alice Rohrwacher in HAPPY AS LAZZARO. Wie schon in LAND DER WUNDER hat sie einen kleinen Ort in den Bergen Italiens gefunden, wo diesmal die Zeit stehen geblieben scheint. Die Dorfgemeinschaft lebt und arbeitet auf dem Anwesen der Marquise de Luna, der "Königin der Zigaretten", und wird von dieser ausgenutzt und um den Lohn ihrer Arbeit geprellt. Ein wahrhaft feudalistisches System, das sich irgendwie bis in die 1990er gerettet hat, weil die Bauern kein anderes kannten. Vorgestellt wird es uns von Lazzaro, einem wahrhaft guten Menschen, der neben Obrigkeitsgehorsam und Empathie für seine Mitmenschen nie an sein eigenes Wohl denkt und wie eine Pasolini-Figur etwas naiv am Rande der Gesellschaft steht. Ohne jedwede Anklage stellt er uns diese ungleiche Gemeinschaft vor, die am Ende von den Behörden wegen Menschenverachtung aufgelöst wird. In einem traumähnlichen Schnitt von höchster Poesie lässt Rohrwacher ihren Antihelden, wie seinen biblischer Namensgeber, als Totgeglaubten, in den unwirtlichen urbanen Nischen der Gegenwart wieder auftauchen. Hier trifft er all seine Mitstreiter aus alten Tagen wieder, nur dass es ihnen heute keinen Deut besser geht. So stellt sie dem Feudalismus den Neoliberalismus gegenüber und gewinnt plötzlich eine politische Dimension, die ihre bürgerlich ländliche Attitüde und ihre poetische Erzählweise, überragt.
Mit alter Stärke kehrte Oscar-Preisträger Spike Lee an die Croisette zurück. 1989 ging sein fulminanter DO THE RIGHT THING hier leer aus, wofür er großmäulig den damaligen Jury-Präsidenten Wim Wenders verantwortlich machte. In BLACKkKLANSMAN geht es um den ersten afro-amerikanischen Polizisten in Colorado. Ihn hat es Ende der 70er-Jahre tatsächlich gegeben und es gelang ihm, den Chef des Ku-Klux-Klans ans Telefon zu kriegen und sich nur mit Worten in die lokale Faschisten-Gruppe einzuschleusen. Mit Hilfe seines weißen Partners schafft er es, den KKK auf höchster Ebene vorzuführen. Spike Lee inszeniert das Ganze geradezu schillernd im Stile der Black Power-Bewegung, die sich hier ausgesprochen kraftvoll und mit viel Humor im Kino zurückmeldet. Neben Adam Driver als weißer Undercover-Agent, glänzt insbesondere David Washington (der Sohn von Denzel Washington) als eloquenter Black Power Cop, der mit seinem Coup das ganze Police-Department auf seine Seite zieht und rassistische Kollegen beinahe nebenher aussticht. Ein echter Spike Lee Joint, den man genießen kann, auch wenn der Regisseur auf der Pressekonferenz nichts von dem Unterhaltungswert seines Filmes wissen wollte. “Die Lage sei ernst!” proklamierte er und ließ seinen Film mit Bildern von Charlottesville und Donald Trump enden. Sie belegen, dass sich in puncto Rassismus in den letzten vierzig Jahren in Amerika nicht allzuviel getan hat.
Die wenigen deutschen Beiträge an der Croisette musste man in den Nebenreihen suchen. Und auch dort war es erstaunlich still um sie. Insbesondere Wim Wenders, der seinen Film PAPST FRANZISKUS (Besprechung gegenüberliegend) in einem Special Screening zeigte, machte sich so rar, dass die internationale Presse mutmaßte, dass er Spike Lees Drohung ihm nicht bei Nacht zu begegnen zu Ernst genommen haben könnte. Aber auch Margarethe von Trotta konnte mit ihrem Biopic AUF DER SUCHE NACH INGMAR BERGMAN nur Sympathiepunkte verbuchen. In der Un Certain Regard-Reihe lief dann noch Ulrich Köhlers IN MY ROOM, der zwar von der deutschen Presse hochgeschrieben wurde, international aber durchfiel und es im Kino schwer haben wird.
Was wir sonst noch gesehen haben lesen Sie unter www.filmkunstkinos.de.
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