Das großzügige, hohe, lichte Atelier in Monschau ist nicht nur zum Schauen und vergleichenden Sehen da. Die Tatkraft der vorsichtigen Berührung führt weiter zur wechselnden Handhabung der Teile etlicher Skulpturen von Wolfgang Nestler. Die Balance – ganz klassisch skulptural – und die Stabilität, das Gewicht oder die Elastizität können modifiziert und justiert werden bei diesen Plastiken überwiegend aus Metall, die in ihrer Gesamtheit und Binnengliederung auf einer primären Formensprache beruhen. Vor ihnen stehend und zupackend oder im Gegenüber kniend auf dem Boden, wird man sich ihrer Struktur und der Gesetze der Schwerkraft ebenso wie des eigenen Körpers bewusst.
Die Kunst – im herkömmlichen Verständnis – sieht man den Werken von Wolfgang Nestler nur wenig an. Sie bestehen aus widerständigen, spröden Materialien, bevorzugt Metall, auch Holz. Manchmal wirken sie wie Gerätschaften, genommen aus funktionalen Zusammenhängen. Vordergründig treten sie wie abgestellt oder abgelegt auf. Die Eisenstücke sind abstrakt, elementar gegenstandsfrei mit einem Interesse am konstruktiv Konkreten. Als Blöcke oder Stäbe, oft Rundstücke sind sie geschmiedet, punktuell geschweißt und zusammengesetzt, verschraubt oder mit ihren Gliedern zusammengeschoben. Meterlange dünne Stäbe aus Federstahl hängen an der Wand oder stützen sich auf dem Boden ab, verlaufen als Rechteck kantig, gekreuzt oder diagonal stabilisiert durch weitere Achsen, oder als langgezogenes Oval durch eine Spange zusammengehalten, aus der sie ebenso herausgenommen werden können. Wolfgang Nestler weist erst noch darauf hin: Bitte ganz langsam öffnen, erst nachdem man seinen Stand gefunden hat und sich mit den Füßen auf dem Boden abstützt, damit das geöffnete Ende nicht zurückschnellt.
Nestler lässt in etlichen seiner Werken Verlagerungen ihres Zustandes zu, etwa indem Gewichte in kippende, rotierende Spindeln eingefügt sind oder, bei einer anderen Werkgruppe, zusätzliche Gewichte aufgesetzt werden können. Bei einer Skulptur sind aufgerichtete Holzbalken mit einer Metallklammer im oberen Bereich zusammengefasst, unter der sie verschieden hochgeschoben werden können und so einen stufigen Abschluss bilden. Der Betrachter kann ihren Zustand verändern. Damit verbunden sind in etlichen Skulpturen von Nestler Momente der Spannung und Entspannung, von Ausgleich und Fragilität, die auch psychisch – als Formulierung von Emotionalität – verstanden werden können: Man muss sich nur auf sie einlassen, dann kann man sich ihrem herausfordernden Reiz kaum entziehen. Und dann wird deutlich, wie präzise sie in der Konzeption, aber auch der handwerklichen Umsetzung und im Ausloten von Nuancen sind.
Ob seine Kunst der Skulptur, der Prozesskunst oder der Konzeptkunst zuzuordnen sei, interessiert Wolfgang Nestler nicht sonderlich. Ohnehin bleiben seine Werke in der Orientierung an elementaren Gegebenheiten und Naturgesetzen zeitlos. Im Atelier stehen die frühen Werke neben ganz neuen und können genauso in aktuelle Ausstellungen integriert sein. Nestler wurde 1943 in Gershausen in Osthessen geboren, er ist in Witten aufgewachsen. An der Kunstakademie Düsseldorf hat er Bildhauerei in der Klasse von Erwin Heerich studiert und sein Gespür für Proportion, die Orientierung an einer primären, an der Geometrie, aber auch der Natur ausgerichteten skulpturalen und zeichnerischen Sprache vertieft. Das geht einher mit der Hinwendung zum Metall und zum Schmieden. Schmieden führt zur mitunter kaum erkennbaren Veränderung der Oberfläche, zum Hinterlassen von subjektiven Spuren. Es stellt den direkten Zugriff auf das vorübergehend weiche erhitzte Material dar, verbunden mit der Hörbarkeit: das Klingen in der Bearbeitung. Grundsätzlich impliziert das Eisen als aus dem Erdreich flüssig gewonnenes Material den Gedanken des Energiefeldes und der archaischen Robustheit. Von Beginn an wendet sich Nestler „einfachen“ konstruktiven Lösungen zu, die etwas Dinghaftes in sich tragen, Anklänge an Funktion zulassen und wie selbstverständlich wirken, mithin Konstruktionen des Alltags evozieren und die Bewegung des Betrachters implizieren.
Wolfgang Nestler wurde schon frühzeitig bekannt. Nach einigen größeren Einzelausstellungen wurde er 1977 zur documenta eingeladen, 1987 ein weiteres Mal. Von anderen Künstlern seiner Generation, die – in diesen Jahrzehnten – auf verwandte Fragestellungen und häufig auch Metall (oder sozusagen das Gegenteil: Papier) zugreifen (Hagenberg, Isenrath, Nonas, Rinke, Ruthenbeck u.a.) unterscheidet er sich durch das Lapidare und den Verzicht auf serielle Module zugunsten von sorgfältig gewonnener Vieldeutigkeit und Emotionalität. Sein forschendes Interesse zielt auf transitorische Beschaffenheiten, die er nicht beschönigt und teils in ihrer nervösen Anspannung belässt. Aus dem Grundsätzlichen und mithin Zwingenden ihrer Erscheinung gewinnen seine Werke bis heute einen Teil ihres Reizes. Er selbst spricht von der Werdeform, Diese Werke könnten entsprechend der täglichen Verfasstheit ihres Betrachters jeden Tag neu zusammengesetzt und anders angeordnet werden. Zugleich nimmt jede Präsentation in Ausstellungsräumen den Charakter von Installationen an, bei denen eines zum anderen führt, miteinander in Beziehung tritt und energetisch, atmosphärisch aufeinander reagiert. Der Raum wird aktiviert. Über das Partizipative hinaus, das sich in der üblichen Vernissagen-Situation nicht immer praktizieren lässt, konzipiert Wolfgang Nestler mitunter Happenings und später dann Performances, inzwischen mit Ausdruckstanz oder Musik. Die Ausstellung und ihre Objekte werden animiert.
Nestler lehrte ab 1987 als Professor an der Universität-Gesamthochschule Siegen, die er als Institut mit einem Fachbereich für Skulptur mit aufgebaut hat, und sodann als Gründungsprofessor für Plastik und Bildhauerei an der HBK Saar in Saarbrücken. Das Miteinander, das in seinen Werken vorliegt und den Anordnungen für die Ausstellungen und deren Veranstaltungen stattfindet, kehrt in der Lehre als dialogischer Ansatz wieder. Nestler vertritt die Haltung, überall sei Kunst möglich und das Atelier sei überall – zwischen Kunst und Leben herrscht eine große Identität als Teil der Herangehensweise, die präzise Konstruktionszeichnungen aber auch knappe Landschaftsskizzen beinhaltet. Mit allen Optionen des Sehens und Überprüfens der Werke, die mit Spezialisten produziert werden, mit denen er teils seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, wechselt er heute zwischen Ateliers in Monschau/Eifel und in Berlin-Schöneberg und in Düsseldorf – ohnehin hat er immer den Kontakt zur Landeshauptstadt und zur dortigen Akademie gehalten, etwa über seinen Künstlerfreund Imre Kocsis, der ihm unvergessen ist, und die Zeichnerin und – im erweiterten Sinne – Bildhauerin Christel Blömeke, mit der er im vergangenen Jahr gemeinsam einen Raum im Stadtmuseum Düsseldorf als „Werkbild“ aktiviert hat.
Roland Scotti als sensibelster Kurator zum Werk von Wolfgang Nestler hat zu seinen Werken anlässlich der Ausstellung im Kunstverein Kunsthaus Potsdam vor wenigen Monaten geschrieben, es handle sich um „meisterhafte und doch immer improvisierte Gestaltungen, geladen mit einer fast unbändigen Lebensenergie, die obendrein im grundsätzlich probeweisen Ruhezustand, einer lauernden Bewegung, aufblitzt. Die Werke warten darauf, im Imaginären oder im Realen, vom Augen-, Tast- und Gleichgewichtssinn genutzt zu werden, um sich, den Raum, den Blick und vor allem uns zu verändern.“
Aus einem aufgerichteten rechteckigen Eisenblock (100 x 80 x 20 cm) hat Nestler einen Halbkreis mit dem Brennschneider ausgeschnitten; die Fräsformen bleiben als vitale Negativ- bzw. positive Umrandung als Ereignis und Zeugnis der Handlung ablesbar. Das halbkreisförmige Stück balanciert sich neben der verbliebenen, nun zu durchschauenden Scheibe aus, könnte angestoßen werden und lakonisch auf und ab wippen. Ausgestellt war die zweiteilige Skulptur u.a. auf der documenta 1977, heute befindet sie sich in der Sammlung des Ludwig Forum in Aachen. Ähnlich aktiviert Nestler die Wand, an die er teils meterlange, dadurch sich biegende Metallstäbe lehnt oder hängt, ausgestattet noch mit breiteren Flächen und Verbindungsstücken. In ihrem Materialton vor der Wand wirken diese Gebilde als Zeichnung, die umso mehr die gesamte Wandfläche aktiviert. Eine andere zentrale Skulptur, die Nestler auch bei seiner Ausstellung im Kulturbahnhof Eller 2017 gezeigt hat, hängt an einem Stahlseil von der Decke und schwebt leicht über dem Boden. Sie besteht aus mehreren Eisenringen, die mit geringem Abstand umeinander gelagert sind. Daneben, auf dem Boden, liegen kleine Metallscheiben, die man auf der Schale platzieren kann und sie so zum geringen Kippen bringt und in eine schaukelnde Bewegung versetzt. Natürlich erinnert diese Skulptur an die Planetenbahnen mit ihren Monden, sie trägt den Titel „Sonnenerinnerung“ (1986).
Aus der grundsätzlichen Forschung heraus entstehen über die Jahre hinweg umfangreiche Werkgruppen, die auch nach langer Zeit wieder aufgegriffen werden können. Das gilt etwa für die Spindeln, besonders aus hellem Holz, die stufig gedrechselt, verleimt und teils geschliffen sind (2013). Sie werden begleitet von eiförmigen Objekten aus Metall als Bodenplastiken, welche genau austariert in ihrem Bewegungsverhalten sind und zudem über lose Metallsplitter verfügen, die eingefügt werden können und die Ausrichtung verlagern. Ein weiteres sind Materialkontraste mit all den Spezifika, die im vergleichenden Sehen deutlich werden: im Zusammenfügen von Styropor und Eisen. Bei diesen kniehohen, mit geometrischen Formen ineinander gefügten Partien setzt Nestler Gewicht gegen Nicht-Gewicht, die dunkle massive Fläche gegen das porös körnige Weiß des fragilen Styropors. Positiv und Negativ wechseln in einem nichtendenden Prozess, zugleich sind diese Bodenskulpturen zu umgehen. Eine solche Skulptur, die erneut auf einer halbkreisförmigen Scheibe beruht, befindet sich in der Sammlung des Von der Heydt-Museums in Wuppertal, wo sie 1986 in einer Ausstellung mit dem Titel „Material für Poesie“ zu sehen war.
Wie weit das Spektrum des Verstehens und der Einlassung sein kann, unterstreichen die unterschiedlichen Herangehensweisen an dieselben Skulpturen. So ist im Katalog des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart 1978 das „Standobjekt 10/74“, wie es zunächst hieß, rein sachlich beschrieben: „Zwei Rundeisenstangen, von denen die eine gerade, die andere um 90 Grad abgewinkelt ist, stehen auf einer angeschweißten Querstange. Sie sind durch einen Splint miteinander verbunden, wodurch ein Umfallen verhindert wird. 195 x 15 x 40 cm.“ (Zu ergänzen ist, dass die Querstange als „Fuß“ unterhalb der vertikal aufragenden Stange parallel zur abgewinkelten Rundeisenstange und die Querstange unterhalb der abgewinkelten Rundeisenstange im rechten Winkel dazu steht. Weiterhin, dass die vertikale Stange an der Stelle, an der sie von der Querstange umgriffen wird, flach geschmiedet ist und der Stift, der an dieser Stelle die beiden Stellen zusammenhält, einen Ring zum Greifen hat.) Später findet dann der Lyriker Johannes Kühn einen neuen, nunmehr gültigen Titel: „Stuhl, den Wetterbericht zu hören“. Und Scotti wiederum hat jetzt im Wissen um das Gesamtwerk im Katalog zur Ausstellung im Kunstverein Kunsthaus Potsdam geschrieben: „Eine Gelegenheit, / über negative Volumen nachzudenken, / oder / steile Pyramiden, / wenn ich die hohe / Mathematik der Kurvenberechnung / berücksichtige.“ Und dann zeigt sich erst recht, wie öffentlich und funktional anmutend, selbstverständlich und unerschöpflich diese Werke sind und doch privat und geheimnisvoll bleiben.
Wolfgang Nestler
ist beteiligt bei den Kunstpunkten: 21./22. September: Kölner Straße 369.
Außerdem sind Ausschnitte seines Werkes in Einzelausstellungen im Kunstraum Krüger, Hohenstaufenstraße 67 in Berlin zu sehen, www.kunstraum-krueger-berlin.de.
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