Die Bilder von Elisabeth Mühlen – die Zeichnungen, die sich aus feinen Strichfolgen und ineinander verschlungenen Häkchen in Schwarz-Weiß oder Buntfarben zu einem pulsierenden Farbkörper verdichten, und die Malereien, die sich in ihrem gedeckten Ton nach außen hin verschließen – sind realistisch, reine Landschaft, urbane Szene oder Blumenstillleben, wahrhaftig und unspektakulär. Sie zeigen Alltägliches so, dass es alltäglich bleibt und selbst nicht wichtig auftritt, und schildern unseren Lebens- und Erfahrungsraum mit seinen Strukturen, Ordnungen und berechenbaren Eigenheiten mit der Ernsthaftigkeit der Genauigkeit. Menschen kamen nur zeitweilig vor, kaum Porträts, mittlerweile sind sie ganz verschwunden. Mit der Reduktion von Ereignis und Bedeutung sind die Bilder oft kleinformatig, umso mehr Konzentrate und Einladungen an das hingebungsvolle Sehen. Das Bild „OA 7“ (2024) ist zusätzlich fokussiert, indem es sich – an der Schauwand im Kinosaal der Kunsthalle – in einem weißen Kastenrahmen hinter Glas befindet. Von einem auf Abstand gesetzten, festen Standpunkt aus tastet sich das Sehen durch die aufeinander folgenden Farbschichten. Der Bildraum erweitert sich wie von Geisterhand, zugleich entfaltet sich eine Landschaft mit romantischen Zügen und symbolistischen Anklängen. So überzeitlich und sachlich die zeichnerische Erfassung selbst ist und jedes subjektive Begehren ausschaltet, so sehr ist sie jedoch von der zeitgenössischen Erfahrung des Eingriffs des Menschen in die Natur und ihre Ressourcen geprägt. Gegeben ist der schweifende Überblick über ein Tal hin zu den Almwiesen der Berge, die im Hintergrund mit summarischen, weichen Verläufen bis zum Bildrand aufsteigen und den Himmel verstellen. Zu ihren Füßen liegt eine Wiese im Sonnenlicht, welches jeden einzelnen Halm in seiner eigenen Farbigkeit erhellt, eingeleitet von einzelnen Blüten und Gewächsen. Davor wieder wachsen dunkle, breite lanzettförmige Blätter mit ihren Lamellen auf und korrespondieren untereinander. Könnten sie in ihrer Krümmung nicht etwa auch an Beispiele der Kunstgeschichte zum exotischen Paradies und zur unberührten Natur erinnern? Zugleich wirken sie als Grenze und Hinleitung, unterstützt durch die flächig ausgesparten akkurat umrissenen Laubblätter am rechten und unteren Rand, die als Sucher funktionieren können, vor allem aber der natürlichen Realität eine künstliche, abwesende gegenüberstellen, welche indes die Wirklichkeit der Zeichnung ist. Als Weißschatten betonen sie die Naturschilderung als differenzierte Bestandsaufnahme dieses Tals des Ostallgäus innerhalb mehrerer, autonomer Zeichnungen von Elisabeth Mühlen, die jeweils eigenen Herangehensweisen und Konkretionen folgen.
Zunächst aber repräsentieren die weißen Flächen hier, vor dem eigentlichen freien Wuchern der Natur, eine konstruktiv anmutende Ordnung, die eine Mikroperspektive der Natur und ihrer Architektur zeigt und von stufigen Verjüngungen und Symmetrie bestimmt ist. – Wäre es zu weit hergeholt, bei der Organisation dieser weißen Formen, in der Wiederholung und Variation und ihrer Korrespondenz auf der Bildfläche an die künstlerischen Anfänge von Elisabeth Mühlen und ihr plastisches Empfinden zu denken, als sie im frühen Studium in der Düsseldorfer Akademie-Klasse von Erwin Heerich plastische Körper, Kegel und Kegelsegmente und Kugeln aus Ton, Gips und Polyester gebaut hat? Ausgestellt waren derartige Objekte 1980 im Rheinischen Landesmuseum Bonn, gemeinsam mit denen ihrer Kommilitonen (u.a. Andreas Brüning, Manfred Müller und Kazuhito Nishikawa). Wenig später, noch im Studium wechselt sie in die Malerei. Ihre Motive findet sie schon bald im Außenraum, vor dem Original. Die Zeichnungen setzt sie teilweise im Atelier als mittel- und großformatige Malerei um, wobei sich einzelne Motive und ihr Verhältnis zueinander ändern können. „In einem Prozess stetiger Durchforschung der Oberfläche des Gesehenen versucht sie einen Extrakt des Erlebbaren zu finden, um sich ein Bild zu machen, das Unaussprechbares formuliert“, hat Thomas Brandt über eine Werkgruppe dieser frühen Malerei geschrieben, zur Ausstellung von Elisabeth Mühlen in der Alten Post Neuss 1995.
Die grundsätzlichen Überlegungen und die künstlerische Sicht auf die Welt bleiben und werden von ihr nur noch intensiviert und jedes Mal aufs Neue befragt. Verbindend für die Werkgruppen, die in den Sujets, der Motivik und Perspektive mitunter sehr unterschiedlich sind, bleiben bis heute die Stille und die Weite des Bildraumes, der sich entfaltet und öffnet, und der konzentriert ruhige Blick. Einzelne Zeichenfolgen entstehen mit dem Fineliner, etwa die kleinformatigen, so eindrucksvollen Wiedergaben von Machtarchitektur, die mit ihren unruhig vibrierenden, nie zur Ruhe kommenden Schattenzonen und im Vereinzelten ihre Bedrohlichkeit vermitteln. Die sorgsame Auseinandersetzung mit dem Medium der Zeichnung führt bei anderen Bildern zum Einbezug von Schrift als zeichnerischem Duktus. Text ist Zeichnung, Zeichnung ist Text, teils deutlich zu lesen und damit – als Anverwandlung eines überlieferten Gedichtes etwa – als unmittelbare Botschaft voller Geheimnisse zu begreifen. Dahinter steckt noch die intensive Hinterfragung, inwieweit sich Bilder dem Außersprachlichen widmen und inwieweit sie in Sprache zu übersetzen sind und was nicht doch „unsagbar“ bleibt. Ebenso variationsreich und angemessen wie sie die Mittel der Zeichnung einsetzt, so variiert Elisabeth Mühlen, die lange Dozentin an der Alten Post in Neuss war, die Mittel der Malerei und konfrontiert auch hier unterschiedliche Weisen des Vortrags miteinander.
Seit etwa zwei Jahren zeichnet Elisabeth Mühlen die Landschaft die Berge des Allgäu zwischen Bad Hindelang und Sonthofen, welche sie seit etwa einem Jahrzehnt regelmäßig erwandert. Die Bilder entstehen nacheinander, innerhalb weniger Tage, ohnehin sind sie als Zeichnung nicht korrigierbar. Mit diesen visuellen und zeichnerischen Erfahrungen entstehen mittlerweile ebenso Zeichnungen in ihrer häuslichen Umgebung in Düsseldorf. Parallel dazu wendet sie sich in der Malerei – kleinformatig, teils zwei- oder dreiteilig, mitunter rund oder oval, und zwar in Öl auf Leinwand – ganz der Natur zu. Sie malt Blumen und Pflanzen, oft Nelken. Im Atelier in Benrath ist dafür vor allem die Stirnwand des Raumes vorgesehen. Auf einem Tisch befinden sich die „Modelle“ in Vasen oder liegen ausgebreitet: Die Blumen und Sträuße besitzen verschiedene Zustände des Blühens ebenso wie des Verwelkens, einer ist für die Malerei so faszinierend wie der andere. Mühlen nimmt sich für diese Gemälde ein, zwei Jahre Zeit, sie beobachtet sie, während sie an anderen Bildern weiterarbeitet. Der Auftrag der vielen hauchdünnen Malschichten geht mit einer Stofflichkeit der Leinwand-Oberfläche und einer Verdeutlichung ihrer Maserung einher. Die Farbigkeit – die purpurnen, violetten Rottöne – ist delikat, exquisit und kann nur vor dem Bild selbst erlebt werden. Natürlich ist es eine wunderbare Idee, dass Elisabeth Mühlen auf ihrer Website die Bilder Monat für Monat nacheinander würdigt, so dass sie für sich zu empfinden sind. Sie zeigen bildfüllend und aus wechselnden Perspektiven Blüten zwischen Wildwuchs und Domestizierung. Dazu sind auf einzelnen Bildern malerische Laubblätter zu sehen mit den Adern als stützender Struktur und den Hinweisen auf die Photosynthese. Eingeschrieben ist diesen Bildern Vergänglichkeit, Zeit, Fragilität und Resilienz zugleich. Ein ganzer Kosmos an Sensationen tritt hervor und umschreibt nicht mehr und nicht weniger als das, was wir als vertraute Natur und einzigartige Schönheit empfinden, und womit wir, vielleicht auch als Referenz auf unsere geistige Verfasstheit, sorgsam umgehen sollten.
Elisabeth Mühlen ist beteiligt bei: „Und wir fangen gerade erst an. Künstlerinnen und Künstler des VdDK 1844“, bis 18. Mai in der Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4, www.kunsthalle-duesseldorf.de
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