Ulrich Fürneisen zeichnet vor der Natur, im Freien, in konzentrierter Versenkung und aufmerksamer Hinwendung zu dem, was er vor sich sieht. Er widmet sich ausschließlich der Landschaft, welche er in einem bestimmten menschenleeren, bewaldeten Gebiet in Südbaden vorfindet, im Taubergießen. Seit fünf Jahrzehnten reist Fürneisen von März bis November von Düsseldorf aus dorthin. Für neue Bilder wechselt er dort den Standort oder die Perspektive, von der aus er den Ausschnitt wählt. Fürneisen zeichnet die Bäume, Äste, die überhängen und sich weiter verzweigen, die Wasserfläche des Altrheinarms und das Unterholz mit Bleistiften auf Papier und auf grundierte Leinwand. Das Zeichnen behält die Übersicht über das Gewimmel des Geästs und findet diese für sich neu. Für jedes der relativ großen Formate benötigt er bis zu zwei Monate. Jedoch handelt es sich bei den fertigen Bildern keineswegs um realistische Wiedergaben. Schon das, er zeichnet in Schwarz-Weiß, tonal in unzähligen Graustufen. Er lässt in seinen Darstellungen Belaubungen und Gräser weg und deutet das Unterholz lediglich an. Ganze Partien bleiben weiß, ausgespart. Und das Panorama ist teils verzogen und weitet sich, als wären wir von der Bewaldung umgeben. Im Übrigen bleibt die Betrachtung auf Abstand, das Gestrüpp der Bäume stellt sich der visuellen Durchquerung in den Weg, oder wir schauen auf den Erdboden, der sich sozusagen zu unseren Füßen in den Tiefenraum ausbreitet, wobei die Äste unseren Blick weiter nach innen leiten – bis wir die Übersicht verloren haben und mit der Erfassung wieder von vorne beginnen.
Fürneisen zeichnet zu den verschiedenen Jahreszeiten. Schon beim Zeichnen an einem Bild über Wochen verändert sich die Landschaft. Zudem wechseln im Laufe des Tages der Sonnenstand und das Tageslicht. Dazu steht oder sitzt er im unwegsamen Gelände im Dickicht, wo er sich einen Unterstand – sozusagen ein Atelier im Freien – einrichtet, mit einem Segel als Dach, welches vor Sonne und Regen schützt. Isolde Wawrin, die großartige Künstlerkollegin, in deren nahegelegener Kunsthalle in Altdorf Fürneisen ausgestellt hat, hat es in einem Film über ihn so beschrieben: „Das ist schon mal seltsam, könnte man sagen: Da steht einer mitten in den Schnaken und zeichnet diese Natur, die man gar nicht durchdringen kann.“
Fürneisen selbst spricht in dem Film, den Jürgen Hille im vergangenen Jahr veröffentlicht hat und der im Internet abrufbar ist, von einem „Röntgenbild der Landschaft“, das er anfertigt. Er sucht nach dem, was sie zusammenhält und forscht mit den Mitteln des beobachtenden, analysierenden und zusammenfassenden Zeichners nach ihrem inneren Wesen. Raum und Zeit sind Teil der Verwobenheit von allem. Implizit geht es um die Erkenntnis, dass auch das größte Chaos von einem Plan bestimmt ist und dass sich übergeordnete Strukturen finden, welche die Natur und die Landschaft in Beziehung zueinander setzen. Mithin stehen die erfassten Stellen stellvertretend für weitere. Aber vielleicht würde ein Ortskundiger anhand der Zeichnungen die Stellen wieder auffinden können, obwohl sich die Bilder im Prozess verselbständigt haben. Fürneisens Zeichnungen, die entweder unbetitelt sind oder nähere Ortsangaben als Titel tragen, sind Porträts, vertiefende Interpretationen und exemplarische Erfindungen zugleich, natürlich sind sie auch ein Psychogramm von ihm selbst. Überzeitlich sind sie uninteressiert am Gegenwartsgeschehen – so wie der Zeichner bei ihrer Anfertigung alle zivilisatorischen Anliegen vergisst. Ausgehend von Achsen und Fluchtlinien, Schwerpunkten und der Klärung von Vorne und Hinten, sind sie als Bildlösungen formal durchgearbeitet, im Hinterkopf die Frage, wann eine solche Landschaftsdarstellung abgeschlossen sei, verdichtet ist und zugleich ihre Leichtigkeit und Unberührtheit behält. Die Natur vibriert in diesen Darstellungen. Eines bedingt das andere, hält sich in der Balance, führt weiter, stellt neue Zusammenhänge her. Der erste Eindruck des Unaufgeräumten – als würden sich hier noch die Spuren der letzten Wirbelstürme halten – weicht dem Einblick in die Struktur des Landschaftlichen und die Schönheit der Natur.
Ulrich Fürneisen wurde 1947 in Berlin geboren und ist in Düsseldorf aufgewachsen. Seit 1967 ist er Assistent in der Bildhauerwerkstatt von Bert Gerresheim. 1967-1971 hat er an der Kunstakademie Düsseldorf studiert, zunächst (weil die Zeichenklasse verwaist war) bei Dieter Roth, danach bei Joseph Beuys. Nein, auch wenn Beuys selbst vielfach die Natur und ökologische Fragen thematisiert hat, so hat ihn das nicht im Hinblick auf sein Thema beeinflusst. Sowieso wechselt er 1973-1974 als Stipendiat an die St. Martin’s School of Arts nach London: in die Metropole der englischen Pop Art, pulsierend auch im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, progressiv insgesamt und psychedelisch unterwandert, durch die Op Art übersetzt in ein All-Over und eine ornamentale Struktur.
Nach seiner Rückkehr ins Rheinland zieht er in die Umgebung von Hösel, wo sich die Natur vor seiner Haustür ausbreitet. Hier seien die ersten Landschaftszeichnungen entstanden, und schon bald habe sich die Frage nach einem dauerhaften Ort in der Natur gestellt. Mehr aus Zufall, aber nicht unvorbereitet – auf der Fahrt zu einer Anti-AKW-Demo in Wyhl am Kaiserstuhl – entdeckt er 1975 die wilde Natur im Taubergießen: eigentlich ein relativ kleines Naturschutzgebiet am Oberrhein, ganz in der Nähe vom Europapark Rust – und eine Gegenwelt zu diesem. Nach langem Suchen, Zögern und Eindenken entwickelt er seit 1977 dort seine Zeichnungen, seit etwa 1991 nach seinen heutigen Prinzipien in der Landschaftserfassung. Dabei ist jedes Bild ein eigenes Ereignis, deutlich unterschieden von den anderen Zeichnungen. Der Vordergrund ist oft entlaubt, hingegen wachsen die Äste vom Rand in das Bild hinein, durchqueren dieses und sinken zur Erde hin, überlagern sich dabei mit weiteren Ästen und Zweigen, die sich auf einer anderen räumlichen Ebene befinden. Mitunter bricht sich das Licht an den Baumstämmen, die das Weiß des Bildgrundes als gleißende Helligkeit bewahren; die Verschattungen springen hin und her und verstärken das Raumempfinden. Oder der Altrheinarm schlängelt sich durch die Landschaft, dichtes Gestrüpp markiert sein Ufer. Die Unruhe der Natur trifft auf größte Ruhe, „fluktuierende Energie im Wandel von Zeit und Raum, in dem sich Vielfalt und Chaos des Lebens gleichermaßen widerspiegeln“, schreibt Ulrich Fürneisen. Und er ergänzt: „Sich in innerer Schau diesem Wunder zu öffnen, durch Zeichnen dem Ungenügen an der menschlichen Begrenztheit eine Wirklichkeit hinter der Realität, den Entwurf einer Weltsicht aus veränderter Perspektive mit neuen Horizonten entgegen zu setzen, sich dem Himmel näher zu zeichnen, eine Brücke vom Sichtbaren zum Unsichtbaren zu schlagen, mache ich mir […] zum Lebensinhalt.“ (Kat. Kultur Bahnhof Eller 2025)
Vielleicht lassen sich die Zeichnungen noch als Gleichnis verstehen, umfangen von unserer Zivilisation und ihren Mechanismen den Entwurf einer übergeordneten Ordnung zu finden. Angesprochen ist das prekäre Verhältnis des Menschen zur Natur. Und so wie Fürneisen an die Traditionen der Landschaftsmalerei anschließt, so sind seine Bilder doch kaum als romantisch zu bezeichnen. Eher sind sie – ohne dies selbst abzubilden – subtile Kritik an Konsum und rasantem Fortschritt und der Vereinnahmung und Zerstörung der Natur; durch die Klimakrise gewinnen sie eine plötzliche Aktualität. Die tastende, fast haptische, sich in der zeichnerischen Erfassung vergewissernde Naturerfahrung dieser Bilder aber ist als synästhetisches Erleben unserer Existenz überzeitlich und einmalig.
Ulrich Fürneisen, Zeichner und Grafiker, bis 2. März im Kultur Bahnhof Eller,
Vennhauser Alle 89 in Düsseldorf, Di-So 15-19 Uhr.
Fürneisen ist auch beteiligt bei: Und wir fangen gerade erst an. Künstlerinnen und Künstler des VdDK 1844, 15. März – 25. Mai in der Kunsthalle Düsseldorf.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
FARBE UND LICHT. FOKUS AUF DIE SAMMLUNG
Die aktuelle Ausstellung im Museum Ratingen
„Kunst-Stücke“ Anna Schlüters Blick auf
„TYPEFACE: K“, 2022 von Hyeju Lee
Ein Jahr Galerie „Kiek ma rin“ in Erkrath
Ein Grund zum Feiern!
200 Jahre Düsseldorfer Karneval im Blick
Schnell und entschleunigt
Harald Naegeli im Bilker Bunker
Kunst aus Verantwortung
Katharina Sieverding in K21
Ari Benjamin Meyers
Die Wirkung von Gesang
Jürgen Grölle
Assoziierte Landschaften
Avantgarde in der Malerei der sechziger Jahre
Konrad Lueg im Kunstpalast
Siegfried Anzinger
Mit der Figur
Fortschritt in der Fotografie
Thomas Ruff im neuen Malkastenforum
Ralf Brög
„JEL_Dreamer“, 2021
Theresa Weber
Identität und Identitäten
Fließend und weich
Sheila Hicks in Düsseldorf
Jakob Albert
„SHIP 5“, 2024
Stefan à Wengen. The Power of Love
bis 26.1.2025 im Museum Ratingen
Anys Reimann
Vielstimmig im einen
Zukunft ist jetzt
Die Schenkung v. Florian Peters-Messer im Kunstpalast im Ehrenhof
Lukas Köver
BÜSTE, O.T., 2024
Unter Beobachtung
Lynn Hershman Leeson in der Julia Stoschek Foundation
Wolfgang Nestler
Form und Bewegung im Raum
Thorsten Schoth
ROSETTE I: #CONTEMPLARE, 2023
Eine Straße
Zur Zukunft der Innenstädte am Beispiel der Graf-Adolf-Straße - noch bis zum 18.8.
Claudia Mann
Formen körperlicher Anwesenheit
Ernst und heiter
Sehr wichtig: „Heilung der Erde“ in der Kunsthalle Düsseldorf