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Loveless

70. Filmfestspiele Cannes

Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke

Wegen der französischen Präsidentschaftswahlen wurde das Filmfestival an der Côte d'Azur in diesem Jahr um eine Woche nach hinten verlegt, so dass es zum Zeitpunkt unseres Redaktionsschlusses noch in vollem Gange war, und wir hier nur über die ersten vier Tage berichten können. Eröffnet wurde die 70. Jubiläumsausgabe an der Croisette mit ISMAËL'S GHOSTS von Arnaud Desple­chin, der zwar Stars wie Marion Cotillard, Charlotte Gainsbourg, Louis Garrel and Matthieu Amalric auf den Roten Teppich führte, ansonsten aber eine rein französische Angelegenheit blieb, die international nicht überzeugen konnte.
Mit viel Applaus bedacht wurde hingegen Todd Haynes‘ WONDERSTRUCK, in der zwei gehörlose Kinder in verschiedenen Zeitebenen - 1927 und 1957 - von ihrem Zuhause in Minnesota nach New York ausbüchsen. Die Verfilmung des Erfolgsromans von Brian Selznick aus dem Jahr 2011 ist liebevoll inszeniert und weiß mit beeindruckenden Bildern und einem tollen siebziger Jahre-Score zu überzeugen. Schade nur, dass die Geschichte mit ihren klar in schwarzweiß gekennzeichneten Rückblenden und ihrer besonders gegen Ende allzu erklä­renden Erzählweise zu viele Zugeständnisse an den Video-on-Demand-Riesen Amazon macht, der diesen Film produziert hat.
Wesentlich cinematographischer ist LOVELESS von Andrey Zvyagintsev, der mit seinem letzten Film LEVIATHAN hier bereits 2014 eine Silberne Palme ge­wann und sich nun für einen Nachschlag empfiehlt. Er erzählt die Geschichte eines Ehepaares, das die gemeinsame Wohnung verkaufen will, um ihre Scheidung zu finanzieren. Der Film beginnt mit einem handfesten Ehestreit, bei dem es um das Sorgerecht des gemeinsamen Sohnes geht, den keiner der beiden mit in sein neues Leben nehmen will. Am Ende der Diskussion schlägt die Wohnzimmertür zu, hinter der dann der kleine Junge mit tränenüberströmtem Gesicht ins Bild kommt. Fortan wird er vermisst. Keiner weiß, ob er nur weggelaufen oder ob ihm etwas zugestoßen ist. Die Eltern suchen ihn, die Polizei kann sich darum nicht kümmern und verweist auf einen privat organisierten Suchtrupp. Doch trotz aller Bemühungen bleibt der Junge verschwunden...
Auf dieser Suche führt uns Zvyagintsev nicht nur an die Abgründe einer mo­dernen, aber emotionslosen Gesellschaft, sondern visualisiert sie auch mit allerhand Metaphern, wie verlassene Industriegebäude oder neue Wohnungen, die in Kontrast zu den ehemaligen Plattenbauten stehen. Sie sind zwar neu, aber nicht unbedingt gemütlicher, offensichtlich ist der Wohlstand so schnell gewachsen, dass Geschmack und Stil auf der Strecke blieben, was man 1:1 auf die neurussische Mentalität übertragen kann, was Moral und Verantwor­tungsbewusstsein betrifft. Während wir im Westen Filme über dysfunktionale Familien machen, berichtet Zvyagintsev über eine dysfunktionale Gesellschaft.
Ein weiteres Highlight ist für uns THE SQUARE von Ruben Östlund, der ebenfalls mit seinem letzten Film HÖHERE GEWALT im Wettbewerb vertreten war. Damals interessierte er sich für einen Familienvater, der im Skiurlaub seine Familie bei einem Beinah-Lawinenunglück alleine lässt, nun geht es um Christian (Nomen est Omen), einen gutaussehenden, erfolgreichen und eloquenten Museumsdirektor, der bei der Vermarktung seiner neuen Ausstellung, aber auch privat – nachdem ihm sein Handy gestohlen wird – mit der von ihm verlangten „political correctness“ in Konflikt gerät. Das ist enorm komplex und ungeheuer intelligent in einer kulturellen High Society in Szene gesetzt, die von einem Prekariat kontrastiert wird, welches vehement sein Rechte einfordert und damit das Gutmenschentum schnell an seine Grenzen führt und als schein­heilig entlarvt.

Über die neuen Filme von Michael Haneke, Sofia Coppola (s. S. 29) und Fatih Akin, die noch nicht zu sehen waren, berichten wir im nächsten Heft und früher und ausführlicher auf www.filmkunstkinos.de.

Kalle Somnitz, Anne Wotschke

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