Klar, Venedig ist immer eine Reise wert, doch die Filmauswahl ließ in den letzten Jahren zu wünschen übrig. Manmachte zu viele Kompromisse, lud schwächere und kommerziellere Filme ein, wenn die Aussicht bestand, Stars an den Lido zu kriegen. Dennoch gelang es meist eine Hand voll guter Filme zu programmieren, die dann beim nächsten Oscar-Rennen an den Start gingen. Doch in diesem Jahr war alles anders. Venedig präsentierte eine ganze Reihe toller Filme und überzeugte mit einem ausgesprochen starken Jahrgang.
Das fing schon gleich mit dem Eröffnungsfilm LA LA LAND an, der nicht nur für viel Glamour auf dem roten Teppich sorgte, sondern auch gute Stimmung verbreitete, die das ganze Festival über anhalten sollte. Damien Chazelle, der uns zuletzt mit whiplash überraschte, lässt hier das Kinotraumpaar Emma Stone (die die Coppa Volpi als Beste Schuspielerin erhielt), und Ryan Gosling durch ein Musical tanzen, das von privaten und beruflichen Träumen sowie einer Liebe, die sich nicht erfüllt, erzählt. Er zitiert sich quer durch die Filmgeschichte und lässt den Charme der Goldenen Ära Hollywoods wieder auferstehen. Bei uns startet der Film zu Weihnachten und sollte ein wahrer Crowd-Pleaser werden.
Solch ein Opener ist sicherlich schwer zu toppen, doch Tom Ford nahm die Herausforderung an. Schon die Premiere seines Erstlings A SINGLE MAN fand hier statt und bescherte Colin Firth die Coppa Volpi für die Beste schauspielerische Leistung. Mit NOCTURNAL ANIMALS kehrte er nun zurück und erzählte gleich zwei Geschichten in einem Film. Die Kunsthändlerin Susan hat sich vor Jahren von Edward, einem jungen, noch nicht so erfolgreichen Schriftsteller getrennt, um ein priviligiertes, aber unerfülltes Leben an der Seite ihres neuen Mannes führen zu können. Edward hat diese Trennung nicht verwunden und in einem Roman verarbeitet, den er ihr nun zugeschickt hat. Der Film wechselt zwischen Susans Alltag und der Romanhandlung hin und her. In letzterer geht es um eine Rachegeschichte, in der der Autor auf einer Landstrasse von einer Gang angehalten wird, die seine Frau und Tochter entführen, vergewaltigen und töten. Tage später findet er sie mit Hilfe eines rachsüchtigen Polizisten wieder, splitternackt auf einem roten Sofa im Tode eng umschlungen. Dieses Bild, das einem nicht mehr aus dem Kopf gehen will, vereinigt höchste Ästhetik mit der Grausamkeit dieses Verbrechens und konterkariert die Eröffnungssequenz des Films, in der nackte Zweizentner-Frauen für die Eröffnung einer New Yorker Kunstausstellung tanzen. Diese Bilder, großartige Metaphern über die Dekadenz unseres Lebens, und die einfühlsame Geschichte um die Frage, ob man im Leben alles richtig gemacht hat, werden von der Romanhandlung, die eher einem amerikanischen Alptraum gleicht, konterkariert. Auch wenn am Ende inhaltlich nur eine einfache Rachegeschichte mit Hang zur Selbstjustiz übrig bleibt, hat man dennoch zwei Stunden Kino auf höchstem Niveau erlebt, was mit dem Großen Preis der Jury belohnt wurde.
Einen ähnlichen Clou landete Pablo Lorraín, der in Cannes noch mit einem Biopic zu Pablo Neruda aufwartete, das demnächst in unsere Kinos kommt, und sich nun in JACKIE mit Jacqueline Kennedy beschäftigt. Nach einem Drehbuch, für das Noah Oppenheim einen Silbernen Löwen bekam, erzählt er von den Tagen nach John F. Kennedys Tod bis zu dessen Beerdigung, und für die Rolle der ehemaligen First Lady hat er sich Natalie Portman ausgesucht, die der Stilikone mit Maske, Originalfrisur und intensivem Spiel nahe kommen will. Das ist anfangs etwas gewöhnungsbedürftig und wirkt auch gewollt, entwickelt sich aber in zweifacher Hinsicht. Zum einen erwärmt sich der Zuschauer allmählich für Portmans Performance. Zum anderen entwickelt sich Jackie selbst von der behüteten First Lady, die ein TV-Team durchs Weiße Haus führt und dabei weiblich verführerisch wie Marilyn Monroe unwichtige Dinge ins Mikrofon haucht, hin zur streitbaren Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes wie eine Löwin nicht nur für die Kinder, sondern auch für das Andenken ihres Mannes kämpft und eine feierliche Beerdigung verlangt, die ihr die Sicherheitsbehörden verweigern wollen.
Natalie Portman gelingt die Darstellung beider Frauentypen und so lässt sie uns nicht nur einen Blick hinter die Fassade einer Ikone werfen, sondern stellt auch die Frage nach der Rolle der Frau im Amerika der sechziger Jahre. Dabei ist der Blick nicht nur beschränkt auf das Weiße Haus, bis heute ein Männerhaushalt, von dem sich nicht wenige wünschen, dass es von Hillary Clinton Ende des Jahres einmal richtig durchgeputzt wird. Auch in der Politik, der Presse und der Gesellschaft wird die First Lady immer gerne reduziert auf ihre Funktion als Schmuckstück für den regierenden Gatten , die allenfalls die Vorhangstoffe aussuchen darf.
Am Ende kann man die Hilflosigkeit von Jackie gut nachvollziehen, die in einer Umgebung lebt, in der ihr niemand zuhört, was in einer Szene auf die Spitze getrieben wird, als Jackie Unverständnis über die Obduktion ihres Mannes äußert, weil ja wohl offensichtlich sei, woran er gestorben sei. Tatsächlich wurden aus diesen Untersuchungsergebnissen ein bis heute schwelender Streit, ob es sich bei dem Attentat um eine Einzeltat oder ein Komplott handelte. Das hätte man auch Jackie fragen können, immerhin saß sie während des Attentates neben ihrem Mann und hielt dessen Kopf. Hat man aber nicht, geantwortet hat sie trotzdem, doch zugehört hat ihr niemand.
Über 40 Jahre lang arbeitete der Ausnahme-Regisseur Terence Malick an seinem Film VOYAGE OF TIME, der anmutet wie die Verlängerung seines TREE OF LIFE-Intros auf Spielfilmlänge. Produziert wurde das bildgewaltige Werk von Sophokles Tasioulis (DEEP BLUE, UNSERE ERDE) und Kate Blanchett spricht im Original esotherische Texte zu den einzelnen Szenen, die der Chronologie der Erde vom Anbeginn der Zeit bis zu ihrem Ende folgen und mit faszinierenden Bildern durchaus zu beeindrucken wissen, aber nur wenig zu erzählen haben.
Damit wären wir bereits bei den deutschen Ko-Produktionen, von denen einige im Wettbewerb zu finden waren. Den höchsten deutschen Anteil hatte wohl DIE SCHÖNEN TAGE VON ARANJUEZ (NFP) von Wim Wenders, der mal wieder in 3D gedreht hat und es sich damit selbst nicht leicht macht. Dem Film liegt ein Text von Peter Handke zu Grunde, der bereits von Luc Bondy fürs Theater adaptiert wurde. Wenders bleibt werkgetreu ganz nah am Text und hat nur zwei Einstellungen, den Schriftsteller am Schreibtisch mit Schreibmaschine und dessen Protagonisten, Mann und Frau, am Gartentisch. Es soll wohl der Garten Eden sein, wo sich das letzte Zwiegespräch zwischen Mann und Frau abspielt. Es geht um Erfahrungen in der Liebe, um die Kindheit, um Erinnerungen, um das Wesen des Sommers und darum, was Männer und Frauen unterscheidet, um weibliche Sicht und männliche Wahrnehmung.
Obwohl das Theaterstück nur ein Bild hat, ist die 3D-Kamera stets in Bewegung, versucht uns die Schönheit des Gartens plastisch vorzuführen und setzt die beiden Protagonisten immer wieder neu ins Verhältnis zueinander und zu dem Garten. Irgendwie scheint Wenders hier seine Freundschaft zu Peter Handke wieder aufleben zu lassen. Gedreht wurde in französischer Sprache – was in Venedig zu dem Eklat führte, das aufgrund des 3D-Formats der Film zunächst nur mit italienischen Untertiteln zu sehen war – die weibliche Hauptrolle spielt Handkes Ehefrau Sophie Semin und Drehort ist Handkes Garten in Frankreich, wo er selber einen Cameo-Auftritt als Gärtner hat. So spricht der Film ein ausgewähltes Theaterpublikum an, das in den Filmkunstkinos zuhause ist, die aber oftmals nicht in der Lage sind, 3D zu spielen. Ihnen sei die 2D-Fassung empfohlen, die das Publikum auch zufrieden stellen sollte. Übrigens flechtet Wenders mit einer alten Wurlitzer Jukebox einen ausgesprochen ansprechenden Soundtrack in den Film ein, dessen Höhepunkt ein Auftritt von NickCave am Klavier ist.
Eine X-Filme Produktion ist der neue Film von François Ozon, der quasi von der ersten deutsch-französischen Freundschaft nach dem ersten Weltkrieg erzählt. Zur eigenen großen Überraschung und überschwenglichen Freude wurde Paula Beer mit dem Marcello Mastroianni-Preis als Beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet, eine Ehre, die zuvor nur zwei Deutschen in der Geschichte des Festivals zuteil wurde: Lilli Palmer (1953 für DAS HIMMELBETT) und Katja Riemann (2003 für ROSENSTRASSE). Tatsächlich übt ihr stilles, intensives Spiel, das François Ozon in FRANTZ in beeindruckenden Schwarzweiß-Bildern eingefangen hat , einen großen Reiz aus. Wir bleiben haften an ihrem Gesicht, in dem sich die Verzweiflung und Trauer über den Tod ihres im ersten Weltkrieg in Frankreich gefallenen Verlobten Frantz ebenso spiegeln wie die widersprüchlichen Gefühle, die sie gegenüber dem fremden Franzosen empfindet, der plötzlich in dem deutschen Heimatort des Verstorbenen auftaucht und behauptet, ihn gekannt zu haben und mit ihm befreundet gewesen zu sein. Der Film startet bereits diesen Monat in unseren Kinos, weshalb er nebenstehend besprochen steht. Unseren ausführlichen Festivalbericht lesen Sie unter www.filmkunstkinos.de.
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