Die 69. Internationalen Filmfestspiele von Cannes standen in diesem Jahr ganz im Zeichen des Autorenkinos. Festivaldirektor Thierry Fremaux konnte in seinem Programm aus dem Vollen schöpfen und das Who is Who der weltweiten Filmkunstszene einladen, deren neuen Filme oft so nah am ‚cinéma d’auteur‘ waren, dass sie Gefahr liefen, als altmodisch eingeschätzt zu werden. Das begann bereits mit dem Eröffnungsfilm: In CAFÉ SOCIETY erhebt Woody Allen die Nostalgie quasi zum Programm und erzählt die Geschichte eines jungen Mannes (Jesse Eisenberg), der in den 1930er Jahren aus ärmlichen Verhältnissen zu seinem reichen Onkel nach Hollywood kommt und nicht nur in dessen Filmfirma arbeitet, sondern auch mit dessen Sekretärin – gleichzeitig des Onkels Mätresse – anbandelt. Wie ein Stadtneurotiker stolpert Eisenberg in dieser romantischen Komödie die gelegentlich an Shakespeare erinnert, zunächst durch die mondäne Welt des alten Hollywood, doch was er hier lernt – Kontakte vermitteln und die richtigen Leute zusammenbringen – kann er später nach seiner Rückkehr in New York gewinnbringend umsetzen, als er sein eigenes Club-Café zur Vernetzung der High-Society eröffnet. Das ist gewohnt stilsicher inszeniert, gut gespielt und verströmt jede Menge Nostalgie.
Das hatte wohl auch Jim Jarmusch mit seinem Film PATERSON im Kopf. Sein moderner Held ist Busfahrer in dem amerikanischen Örtchen Paterson und heimlicher Hobby-Poet. Doch die Errungenschaften des modernen Lebens lehnt er ab, kein Laptop, kein iPad, kein iPhone, er notiert seine Verse mit Bleistift in ein kleines Büchlein. Wer glaubt, dass ein solches analoges Notebook vor Datenverlust geschützt ist, sieht sich im Unrecht, wenn am Ende der eigentliche Star dieses total entschleunigten Films, die Transgender-Bulldogge Nellie – posthum ausgezeichnet mit der Palme Dog – das Heftchen in tausende Einzelteile zerlegt. Dass dieser Verlust nicht wesentlich, sondern das Schreiben von Literatur wichtiger als das Veröffentlichen ist, mag die Message dieses Films sein, hilft aber nicht darüber hinweg, dass Adam Driver in der Hauptrolle so schüchtern und depressiv angelegt ist, dass es gelegentlich schon ermüdend ist, ihm zu folgen.
Auch Pedro Almodóvar versucht in JULIETA an seine guten Zeiten anzuschließen und legte ein großes Frauendrama vor. In gewohnt knalligen Farben und ungemein dialoglastig erzählt er von Julieta, deren Tochter an ihrem 18. Geburtstag von Zuhause ausreißt und sich nie wieder meldet. Die Ungewissheit über ihr Schicksal wirft Julietta für Jahre aus der Bahn. Gerade, als sie sich wieder gefangen hat und – bereit zu einem Neuanfang – mit ihrem neuen Liebhaber von Madrid nach Portugal ziehen will, trifft sie eine alte enge Freundin ihrer Tochter wieder, die alte Wunden erneut aufreißt und ihre Pläne über den Haufen wirft. Dicht erzählt und raffiniert konstruiert kommt Almodóvar dennoch nicht an seine alte Klasse heran, dafür nimmt er sich inzwischen selbst viel zu Ernst, und auch die Hauptdarstellerinnen bleiben im Vergleich zu seinen früheren Diven wie etwa Carmen Maura oder Victoria Avril trotz schillernder Garderobe seltsam blass.
Wesentlich puristischere Formen des Autorenkinos gab es bei dem Rumänen Christi Puiu zu sehen. Der mutet seinem Publikum in SIERANEVADA zu, fast drei Stunden lang in ungewöhnlicher Form einem Familientreffen beizuwohnen. Dabei hat er eine Kamera im Flur der Wohnung aufgestellt, die immer abwechselnd durch halb geöffnete Türen in das Wohnzimmer, die Küche und das Schlafzimmer lugt, in welchen sich verschiedene Familienmitglieder – teilweise nicht einmal im Bild zu sehen – über die Geschichte Rumäniens und deren Auswirkung auf ihr Leben unterhalten. Das ist sicherlich nicht uninteressant, zumal über den Kommunismus, die Wende, die Rolle der Kirche bis hin zu den jüngeren Ereignissen wie 9/11 oder zuletzt die Anschläge in Paris diskutiert wird, doch publikumsgerecht ist dieser Film kaum.
Auch Xavier Dolans EINFACH DAS ENDE DER WELT ist nicht gerade leichte Kost. Das ‘enfant terrible’ des Familienfilms hat diesen Film zwar erstmals nicht selbst geschrieben, dafür aber ein Theaterstück von Jean-Luc Lagarce als Vorlage gefunden, das sein Lieblings-Sujet auf den Punkt bringt. In dem hochkarätig besetzten Familiendrama kehrt der schwule Schriftsteller Louis (Gaspard Ulliel) nach zwölf Jahren in sein Elternhaus auf dem Land zurück, um von seinen Liebsten Abschied zu nehmen, da er an einer tödlichen Krankheit leidet. Aber dazu wird es nicht kommen, weil alle damit beschäftigt sind, untereinander oder mit ihm zu streiten. Das ist von Vincent Cassel, Marion Cotillard, Léa Seydoux und Nathalie Baye großartig gespielt und wird wohl auch bei manchem Zuschauer Erinnerungen an eigene Familienfehden wecken, ist aber insgesamt ziemlich übertrieben inszeniert und auch die Streitgespräche bleiben an der Oberfläche. Nur in einigen wenigen leisen Momenten des Films, der in seiner disharmonischen Stimmung an Dolans Frühwerk I KILLED MY MOTHER erinnert, schimmern wahre Emotionen durch.
Aber es gab auch Autorenkino “at its best”. Von den Brüdern Dardenne kann man das vielleicht auch erwarten, da sie bereits zum siebten Mal mit einem Film in Cannes sind und bisher immer eine Auszeichnung bekommen haben. Ihr neuer Film DAS UNBEKANNTE MÄDCHEN ist ähnlich angelegt wie ZWEI TAGE, EINE NACHT, in der Marion Cotillard ihre Arbeitskollegen überzeugen sollte, auf ihren Jahresbonus zu verzichten, damit der Chef sie nicht entlassen muss. Haben die Dardennes früher meist mit Laienschauspielern gearbeitet, vertrauen sie diesmal ihre Hauptrolle wieder einem Profi an. Adèle Haenel (LIEBE AUF DEN ERSTEN SCHLAG) spielt die junge Ärztin Jenny, die eines Abends lange nach Dienstschluss noch in der Praxis ist und die Behandlung eines Mädchens verweigert, weil sie endlich Feierabend machen will. Als das Mädchen am anderen Tag tot aufgefunden wird, macht sie sich schwere Vorwürfe und beginnt ihre Identität zu ermitteln. Dabei gerät sie nicht nur in Konflikt mit der hiesigen Polizei, sondern auch mit ihren Mitbürgern, die zwar schon oft ihre Dienste in Anspruch genommen haben, auf ihre Nachforschungen aber ausgesprochen gereizt reagieren. Jeder hat hier sein eigenes unrühmliches Geheimnis, und niemand will für das Schicksal einer fremden, schwarzafrikanischen Frau Verantwortung übernehmen. In einer der intensivsten Szenen dieses Films trifft sie auf die Schwester der Toten. Diese hatte bisher die Verwandtschaft aus Angst vor der Aufdeckung ihres illegalen Aufenthalts geleugnet, gesteht der jungen Ärztin aber nun, dass sie mit dieser Notlüge nicht weiterleben und sich zu ihrer Schwester bekennen will, um ihr eine ordentliche Beerdigung zu ermöglichen. Wie die meisten ihrer Filme angesiedelt in Seraing, einem Vorort von Lüttich, sezieren die Dardennes mal wieder unsere moderne Gesellschaft auf eine ungemein exakte und anschauliche Weise.
Auch Ken Loach hat es wohl ordentlich satt mit der modernen Gesellschaft. Gelang es ihm früher, sozialen Sprengstoff in lebensfrohen Arbeiterkomödien zu verarbeiten, ist er in den letzten Jahren in seiner Filmsprache immer deutlicher und anklagender geworden. So auch in I, DANIEL BLAKE, in dem der 59-jährige Protagonist nach einer schweren Erkrankung erstmals die Hilfe des Staates braucht. Dabei trifft er auf eine alleinerziehende Mutter, die fortan gemeinsam mit ihm gegen die Fallstricke der Bürokratie ankämpft. Beängstigend an Loachs Film ist sein klar formulierter Vorwurf an den Sozialstaat, dass dieser sich seinen Pflichten, in Not geratenen Menschen zu helfen, immer mehr entzieht, indem er sich hinter Formularen und Strafmaßnahmen und ausgelagerten Agenturen versteckt. Irgendwie hat man das Gefühl, dass Ken Loach seinen Humor verloren hat, aber vielleicht ist dieser der immer prekärer werdenden Situation auch nicht mehr angemessen. Immerhin hinterlässt auch seine neuer Film einen starken Eindruck in punkto Solidarität, Warmherzigkeit und Nähe zu seinen Protagonisten.
Damit wären wir beim letzten Autorenfilm, der international durchweg für Furore sorgte. Nicht nur, dass mit Maren Ades TONI ERDMANN erstmals seit sieben Jahren mal wieder ein deutscher Film im Wettbewerb war, er war auch Tagesgespräch über die gesamte Festivaldauer, erhielt mit 3,8 von 4 möglichen Punkten im internationalen Fachmagazin Screen die historisch höchste Bewertung eines Films in dieser Zeitung und führte bis zuletzt das Ranking einer Fachjury von Journalisten an. Und das alles völlig zu Recht. Dabei ist es gar nicht so einfach, mit Ades Film warm zu werden. Peter Simonischeck folgt hier seiner in der Wirtschaftsberatung ungeheuer erfolgreichen Tochter (Sandra Hüller) nach Bukarest, um zu sehen, wie es ihr geht. Als diese auf seine Frage, ob sie denn glücklich sei, ziemlich genervt reagiert und froh ist, dass er am nächsten Tag wieder nach Deutschland zurückfährt, taucht er plötzlich mit Perücke und schrägem Gebiss als eine Art Ion Tiriac-Double unter dem Pseudonym Toni Erdmann wieder auf und sitzt fortan bei fast allen Business-Terminen seiner Tochter mit am Tisch. Wie ihm das gelingt, ist nicht nur ausgesprochen ideenreich, sondern hat auch enormes Fremdschäm-Potential. Doch je dämlicher seine Versuche sind, an seine Tochter heranzukommen, desto sympathischer wird er uns, und eigentlich finden die beiden auch immer dann zueinander, wenn sie sich am ärgsten streiten. Am Ende ist uns der um das Glück seiner Tochter bis zur Selbstaufgabe kämpfende Vater derart ans Herz gewachsen, dass wir ihm selbst den peinlichsten Auftritt verzeihen würden. Das alles ist derart intensiv und glaubwürdig gespielt, dass hier – in einer völlig neuen Form von Komödie – die Traurigkeit unseres Lebens zwischen Weinen und Lachen hochemotional verhandelt wird. TONI ERDMANN kommt bereits im Juli in unsere Kinos!
Wer welche Preise gewonnen hat, lesen Sie im Internet unter www.filmkunstkinos.de
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