E.L. Doctorow, hierzulande vor allem bekannt geworden durch seine Romane „Ragtime“ und „Billy Bathgate“, legt mit „Alle Zeit der Welt“ einen Erzählband mit 12 Geschichten vor, von denen etwa die Hälfte zum ersten Mal übersetzt sind. Eigenbrötler und Zukurzgekommene sind da, Spinner und vom Leben Geschlagene, und alle sind sie irgendwie geeint in einer Art „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (G. Lukács), die sie verwundbar macht und ihnen plötzlich Entscheidungen abverlangt.
Wakefield: der Mann ist ein Fall, bei dem man nicht genau weiß, wie pathologisch die ganze Sache zu verstehen ist – ist er nur schräg, wahlweise neurotisch, oder doch schon wahnsinnig? Die Hinweise auf Ehezerrüttung und Entfremdung im Hintergrund sind ungenau, doch als der Mann in sich das „Talent zur Verwahrlosung“ erkennt, gibt es kaum noch ein Halten. Er glaubt, er lebe „im Bannstrahl“ seiner Frau Diana – „(…) ich lebte in ihm wie in einer Gefängniszelle, wo das Licht nie abgestellt wird“ – und Knall auf Fall zieht er sich zurück in einen Raum über der hauseigenen Garage, um von dort das ganze Treiben im und ums Haus herum zu beobachten. Dort hockt er also fortan, und interessanterweise wird er von Diana nicht einmal vermisst. Er wird nachtaktiv, ernährt sich von Resten aus dem Abfall, klaut Hundefutter, wähnt sich „außerhalb des Systems“. Bei seinen nächtlichen Ausflügen in die Stadt wird ihm von Unbekannten Geld zugesteckt, er durchwühlt den Sperrmüll, wird dabei von „Profis“ attackiert und kann gerade noch ein paar Schuhe ergattern. Als es Winter wird – es sind Monate vergangen –, kränkelt Wakefield gehörig, aber zwei seltsame Gestalten aus der Nachbarschaft versorgen ihn mit dem Nötigsten. Irgendwann registriert er, wie Diana Herrenbesuch bekommt, ausgerechnet von dem Mann, dem er einst Diana ausgespannt hatte. Jäh dann die Volte: Frisch frisiert und als Mensch verkleidet gelangt er wieder in sein Haus, so als ob nichts gewesen wäre. Doch ist auch alles wie vorher? Doctorow verkneift sich die Erklärung, seine Geschichte ist mit Leerstellen ausgestattet, die mehrere Deutungsmöglichkeiten zulassen.
Diese Figuren sind nicht unverschuldet verschroben oder durchgeknallt, ihre Macken können auch einem klaren Kalkül gehorchen, wie z.B. im Falle Walter John Harmon. Wir befinden uns inmitten einer sektiererischen Gruppe um den selbsternannten Propheten Harmon, einem Guru und ehemaligen Alkoholiker. In dessen esoterische Welt gelangt Betty, die dort zur „Purifikation“ geführt werden soll. Doctorow gibt mit großartigen Detailbeobachtungen eine Inneneinsicht in das System frömmelnder Menschen, denen die Sinnfrage abhanden gekommen ist und die stattdessen über einen religiösen Seiteneingang gerettet werden wollen. Man muss in Harmons System mehrere Stufen erreichen, bei Stufe 3 beispielsweise muss aller Privatbesitz abgegeben werden. Der ominöse Prophet sagt, er nehme die Sünden seiner Anhänger auf sich, um selbst in die Hölle zu gelangen. Tatsächlich aber zieht er sich immer mehr zurück. Harmon ist, wie sich herausstellt, ein ausgekochtes Schlitzohr, das sich – mit Betty ! – aus dem Staube macht, als Stadt und Justiz die Sekte unter die Lupe nehmen. Die Gruppe freilich nimmt es gelassen hin und stimmt angesichts von Harmons Verschwinden sogar noch ein „Hallelujah!“ an.
Kurzum: es ist der helle Wahnsinn. Bei Doctorow schaut man in die Abgründe eines galoppierenden Verfalls von Sicherheiten.
E.L. Doctorow: Alle Zeit der Welt. Storys. Aus dem amerikanischen Englisch von Gertraude Krüger und Angela Praesent. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 349 S., 19.99 €
aus biograph 06/13
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