Der 1900 geborene, 1998 verstorbene Julien Green war im wahrsten Sinne ein Jahrhundertschriftsteller. Als Franzose amerikanischer Herkunft schuf er ein umfangreiches Werk, das heute zwar etwas in Vergessenheit geraten ist, das mit seinen psychologischen Akzenten zu Fragen individuellen Versagens aber hochmodern wirkt, so dass die gerade erfolgte Neuübersetzung eines seiner früheren Werke (von 1932) wirklich gut ins Bild passt.
Auf seinem Heimweg im nächtlichen Paris beobachtet ein junger Mann, Philippe, ein sich streitendes Paar, dem er magisch angezogen hinterhergeht. Die Frau erblickt ihn, ruft ihn um Hilfe, vermutlich, weil sie fürchtet, von dem Mann an ihrer Seite in die Seine gestoßen zu werden. Philippe bleibt erstarrt stehen, gelangt dann aber irgendwie zurück in seine Wohnung, in der er gemeinsam mit seiner von ihm geschiedenen Frau Henriette und der Schwägerin Eliane lebt. Noch in derselben Nacht packen ihn Skrupel, er geht nochmals los zum Ort des (vermeintlichen?) Verbrechens, doch wird er da nichts finden, ein Polizist in der Nähe zeigt sich ahnungslos. Aber das alles ist auch gar nicht das Thema.
Einen hinreichenden Einblick in seinen feigen Charakter hat man bereits bekommen. Dabei steht Philippe eigentlich gut da im Leben, hat die Wohnung vom Vater geerbt und besitzt ohnehin alle nur erdenklichen materiellen Vorteile. Doch trotz gehobenem Ambiente und Sorgenfreiheit scheint hier grundsätzlich etwas nicht zu stimmen. Gleich zu Anfang ist bei ihm die Rede von einer „Leere eines Daseins, dem jede Leidenschaft fehlte“. Und warum überhaupt lebt die von ihm geschiedene Frau noch bei ihm? Was hat es mit Eliane auf sich, die, wie man erfährt, Philippe seit ewigen Zeit begehrt, die mit ihm zusammen sein will und die in ihrer Schwägerin nur eine lästige Konkurrentin entdeckt?
Mit besagter Henriette hat Philippe sogar ein gemeinsames, gleichwohl ungewolltes Kind: „Der kleine Robert zahlte mit langen Stunden der Langeweile für die Sünde seines Erscheinens auf der Welt“. Er wurde sogar „gezeugt in einem Anfall von Hass“, Philippe empfindet ihm gegenüber „allenfalls Mitleid“. Es wird zwar nicht explizit gesagt, aber der Eindruck verdichtet sich, dass Philippe weder zu Henriette noch zu Eliane eine emotionale Bindung hat, einfach, weil er schwul ist, sich dies aber nicht einzugestehen wagt. Unter diesem Aspekt erklärt sich sein Verhalten womöglich aber ein Stück weit.
Green ist in der psychologischen Aufbereitung subtil und hintergründig zugleich. Henriette zum Beispiel hat eine proletarische Herkunft, leistet sich aber einen Liebhaber, der ihre (eigentlich überwundene) Vergangenheit verkörpert: „Sie liebte seine Armut, seine ungesunde Wohnung und sogar seine Geldsorgen, die sie sich ganz und gar zu Herzen nahm.“ Das Geld wird sie ihm über Umwege besorgen, allein, um ihren reichen Ex–Ehemann zu desavouieren. Ambivalent ist auch das Verhältnis der beiden Schwestern untereinander, wogegen Philippe sich lieber in Selbstzerknirschung verliert. Elianes Unfreiheit wiederum manifestiert sich in ihrem jäh auflodernden, dann aber immerzu verdrängten Verlangen nach Philippe, den sie sexuell zwar begehrt, vor dem sie sich wegen seiner offensichtlichen Charakterschwächen aber auch ekelt. Alle Figuren zeigen auffällige Spuren von Lebensüberdruss, schon seltsam für ihr junges Alter. Notorisch mit sich selbst beschäftigt, wirken sie gleichzeitig zutiefst verunsichert. Am Ende steht Philippe wieder an der Seine, hat für einen Moment sogar Selbstmordgedanken. Aber, denkt er plötzlich, kann es sein, das man sich aus Langeweile umbringt? Das sagt wohl alles über ihn und die bourgeoise Dekadenz, das wohlfeile Taedium vitae, in dem man sich so gern verliert, wenn man es sich leisten kann.
Julien Green: Treibgut. Roman. Herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Matz. Hanser Verlag, München 2024, 397 S., 28.-€
aus biograph 08/2024
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