Mittlerweile kommt man bei den vielen deutschen Erstveröffentlichungen der Nobelpreisträgerin von 2022 fast schon nicht mehr hinterher; soeben erschien „Die leeren Schränke“, Annie Ernaux‘ Erstling von 1973, da kündigt der deutsche Verlag bereits an, im Frühsommer den Kurztext „Eine Leidenschaft“ („Passion simple“, im Original von 1991) folgen zu lassen.
Im Gegensatz zu ihren autofiktionalen Romanen – sie alle drehen sich um Themen wie Herkunft, Eltern, Generationskonflikt und aufkeimendes feministisches Selbstbewusstsein –, hat man es bei den „leeren Schränken“ mit einem eindeutig autobiografischen Text zu tun – bei freilich gleicher Themenlage. Hinter der scheinbar fiktiven Figur Denise Lesur steckt leicht erkennbar niemand anders als die Autorin selbst.
Es ist, in einem Wort, die Geschichte einer Befreiung, man erfährt, wie sich die Erzählerin Stück für Stück aus ihrem verhassten Elternhaus löst. Besagtes Haus ist ein Krämerladen und obendrein eine Kneipe (mitsamt prolligem Drumherum), in der tagein, tagaus die erbärmlichsten Figuren aufschlagen. Pointiert und detailliert legt Ernaux aber den Finger auf die kleinbürgerliche und ressentimentbehaftete Lebensweise der Eltern, auch wenn die insgesamt eher im Hintergrund bleiben. An ihnen wird sie sich jahrelang abarbeiten, vor allem – so ihr Mantra – will sie nicht werden wie sie. Man folgt einer jungen Frau, die zunächst nichts anderes anzubieten hat als ein konsequentes Dagegensein, jeder Schritt indes markiert ein kleines Stück Selbstwerdung, eine Überschreitung dessen, was, um mit Sartre zu sprechen, zuvor aus einem gemacht worden ist.
Als etwa Zwölfjährige gelangt sie auf eine katholische Privatschule mit einem strafenden, immerzu regelversessenen Personal und einer repressiven katholischen Kirche im Hintergrund. „Denise Lesur, die Königin der Kneipe, war hier ein Nichts“. Allerdings arbeitet sie bereits konsequent an ihrer Rache, zunächst darin bestehend, sich von all den „Aufschneiderinnen, Trantüten und Heulsusen“ ihres Schulgangs abzusetzen und Klassenbeste zu werden. Dadurch, dass sie in allen Fächern reüssiert, verschafft sie sich Freiheit, kein Lehrer kann ihr noch etwas anhaben. Zugleich legt sie den Grundstein für sich als Schriftstellerin in spe: „Die Wörter faszinieren mich, ich will sie einfangen, sie mir einverleiben, sie aufschreiben“. Vordergründig spielt da noch das Motiv herein, die Herkunft zu nivellieren, tatsächlich ist sie aber schon weiter. Körperliche Prozesse stehen ihr womöglich noch im Wege, sehnlichst erwünscht sie sich ihre erste Periode, die sie sich, in etwas eigenwilliger Logik, vor allem erhofft, um ihrer unverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen.
Der nächste Entwicklungsschritt verläuft über Distinktion und Literatur. Sie gelangt an die Uni, entdeckt Françoise Sagan, dann die Existenzialisten. Durch diese Lektüreerfahrungen vergrößert sich der Graben zu den Eltern abermals: „Ich hasse meine Eltern mehr denn je. Sie haben von nichts eine Ahnung, sind Nieten, Proleten (…)“. Ihr Hass verschafft sich durch erste sexuelle Erfahrungen etwas Luft, wobei es ihr nicht einmal um ein romantisches Verliebtsein geht, denn über ihren ersten Lover macht sie sich eher lustig. Eine Schwangerschaft erfolgt dennoch, und als die nicht mehr wegzuleugnen ist, visiert sie zielstrebig eine „Engelmacherin“ an.
Im Unterschied zu den vorigen, auch stilistisch fein austarierten Büchern fällt Ernaux in ihrem Erstling mit einer ungeschönten, über weite Strecken kruden Sprache auf. Man erfährt jugendliches Leid in seinem Ursprung, authentisch und unverblümt, da scheint selten etwas Abgeklärtes auf, stattdessen viel Ohnmacht, Wut und Zorn – das Buch zeigt sich mithin als wunderschön auffunkelnder Rohdiamant.
Annie Ernaux: Die leeren Schränke. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 218 S., 23.-€
aus biograph 02/2024
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