Sympathisch kommt er nicht gerade daher, dieser Émile Maugin, knapp sechzig Jahre ist der Schauspieler alt und verkörpert das, was man in der öffentlichen Wahrnehmung in Frankreich eine „vedette“ nennt: einen allseits bekannten Film– oder Bühnenstar. Mag das Publikum dem in die Jahre gekommenen Mimen noch durchaus gewogen sein, ihn gar vergöttern, seine direkte Entourage, vor allem zahlreiche Frauen, hat ihn eher auszuhalten, sein unverhohlener Narzissmus, sein präpotentes Macho–Gehabe und seine wiederholten Alkoholexzesse lassen ihn durchweg als einen Mann von vorgestern erscheinen. Wohl nicht von ungefähr fällt einem bei diesem Typen ein gewisser Gérard Dépardieu ein.
Gleich zu Anfang bescheinigt ihm ein Arzt, dass er eher das Herz eines 75–Jährigen besitze, welches er über die Jahre viel zu sehr in Mitleidenschaft gezogen habe, wohl durch ausgiebigen Sex und ungesunden Lebenswandel überhaupt. Nimmt Maugin die Analyse ernst? Wird er sein Leben ändern? Noch am Abend hat er einen Auftritt in einem Pariser Theater, und nur kurz bevor er die Bühne betritt, befummelt er übergriffig eine Kollegin, eine Flasche Cognac dabei immer in Reichweite.
Ein Leben lang, darauf wird mehrmals hingewiesen, war sein Verschleiß an Frauen ausgeprägt, seine Doppelmoral im Übrigen immerzu intakt; wenn er, um „Dampf abzulassen“, sich bei irgendeiner Frau bediente, so wurde das von niemandem hinterfragt. Simenon zeigt eine Figur des öffentlichen Lebens, die komplett aus der Zeit gefallen ist und zugleich das widerspiegelt, was man seit Jahren in den Gazetten zu lesen bekommt, von Weinstein bis Trump: Toxische Alphamännchen, die es einen Dreck schert, was sie tun und was andere darüber denken. Aus dieser Grundierung zieht der Roman, geschrieben 1949, eine auffallende Aktualität.
Als Alkoholiker redet Maugin zerfahren, seine oft grobschlächtige Sprache verweist auf schwere Zerrüttung. Schaut man etwas genauer hin, so überrascht der fast 75–jährige Roman aber auch durch eine frivole Tonlage, etwa bei Alice, Maugins dritter Ehefrau. Sie, wohl selbst kein Kind von Traurigkeit, ist ihrerseits fremdgegangen, doch dann liest man, dass das aus diesem „Zwischenfall“ resultierende Kind, Baba, wie selbstverständlich von Maugin als sein eigenes akzeptiert wird. Hier erstaunt es, wie Simenon den Zeitgeist und das herrschende Moralbewusstsein der Epoche konterkariert und gesellschaftlich verankerte Tabus leichthändig aus den Angeln hebt.
Tut sich noch was bei Maugin? Im zweiten Teil des Romans deutet sich tatsächlich ein Wandel an bei ihm, er scheint seine prekäre Lage begriffen zu haben, will sich plötzlich „ausruhen“. Er zieht sich zurück ins südfranzösische Antibes. Film und Bühne sollen, zumindest vorerst, keine Rolle mehr spielen. Doch die alten Muster erweisen sich, wie so oft, als deutlich resistenter, sein Alkoholproblem und die sexuellen Eskapaden nehmen wieder Überhand. Als er sich an einem Angelhaken den Fuß verletzt und es zu einer Blutvergiftung kommt, stellen sich ganz beiläufig erste Todesahnungen ein, und Maugin hat „Schiss, allein zu sterben, wie ein Hund.“
Aus formaler Sicht passiert noch etwas Erstaunliches, denn der Roman unterwandert ein Stück weit sein Narrativ: Die letzten zwanzig, dreißig Seiten beschreiben einen Zustand, der zwischen halbbewusstem Dämmerzustand und tiefen Koma, zwischen Leben und Tod, oszilliert. Seine früheren Geliebten tauchen auf, vermehrt ist von Schuld, Versagen und Verteidigung die Rede. Simenon entwickelt ein spannendes surreales Szenario, bei dem die Gewissheiten durcheinanderwirbeln und Vergangenes metaphysische Geltung erlangt. Maugin stirbt und sein Abtreten von der Bühne des Lebens wird geradezu unerbittlich zu Ende gespielt.
Georges Simenon: Die grünen Fensterläden. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Kampa Verlag, Zürich 2023, 250 S., 23.90€
aus biograph 12/23
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