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Wie soll man leben?

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Dieser Roman gilt als der wichtigste der französischen Feministin Simone de Beauvoir (1908–1986), für ihn erhielt sie 1954 den Prix Goncourt. Es ist ein gewaltiges Werk, 1000 Seiten stark, und die Neuübersetzung erweist sich als superfeine Entstaubung. Seit 70 Jahren hält sich die Mär, es handele sich hierbei um einen „Schlüsselroman“, da sich fast alle auftretenden Figuren konkreten Stars der damaligen intellektuellen Szene zuordnen lassen (womit namentlich die Existenzialisten Sartre, Camus und Merleau–Ponty, aber auch ein paar der Szene eher randständige Schriftsteller wie Arthur Koestler oder Nelson Algren gemeint sind). Die Frage ist zweitrangig. Vieles ist erkennbar Fiktion, andererseits sind bestimmte charakterliche Attribute deutlich an die oben genannten Akteure gebunden.
Es ist das Ende des Jahres 1944: die Niederlage Hitlers ist besiegelt, und obwohl das offizielle Kriegsende noch nicht ausgerufen ist, feiert eine Gruppe Intellektueller ausgiebig im befreiten Paris. Man trifft sich zum Weihnachtsfest und diskutiert bei aller Ausgelassenheit, bei Tanz und Champagner, bereits die Möglichkeit eines weiteren Weltkriegs. Beiläufig spiegelt sich der Duktus der Zeit, man schwadroniert zwar noch über Vergangenes wie Résistance und Kollaboration, doch der Blick ist bereits nach vorne gerichtet, es geht um die Bewertung der Weltlage, um neue Klassenzugehörigkeiten und die Rolle des Kommunismus (ein wichtiges Thema der Zeit), man will zeigen, wie man sich als Elitedenker, als „Mandarin“, politisch und gesellschaftlich positioniert.
Die Frage, die sich die im Mittelpunkt der Geschichte stehende Ich–Erzählerin Anne – sie arbeitet als Psychotherapeutin und ist neben ihrer Tochter, der blutjungen Nadine, die einzig weibliche Figur mit klarem Profil – daher stellt, lautet: Wie soll man fortan leben? Was bedeuten moralische Imperative? Zur elementaren Grundausrichtung dieses Figurenkreises gehört es, alles zu hinterfragen, etwa auch, ob man überhaupt noch das Recht habe, Bücher zu schreiben. Anne positioniert sich klar: „Nur Bücher und Ideen hielten stand, sie allein erschienen mir real“, weil da so vieles war, „was man mit Worten festhalten möchte und was verloren geht“. Bücher als unhintergehbarer Bestandteil des Lebens, imstande, die Welt zu verändern: Man reibt sich die Augen und wähnt sich in einem Moment aus Zeitvorbei.
Die Debatten, ebenso hitzig–ideologisch wie idealistisch geführt, erscheinen der damaligen Aktualität geschuldet, sind dennoch nicht aus der Zeit gefallen. Immer wieder entstehen Reibungspunkte, etwa bei der für diesen Kreis virulenten Frage, ob es in der Sowjetunion – ihr sind einige sehr zugeneigt – ähnliche KZs gab wie in Deutschland. Man gerät aneinander und gelangt über Umwege an den Wesenskern: Schadet politisches Engagement dem schriftstellerischen Anspruch? Kann man zulassen, dass sich der von Perron (i.e.: Camus) geführten Zeitung eine politische (linke) Bewegung anschließt, um Einfluss auf die Bewusstseinsbildung zu nehmen? Verliert sie dadurch nicht zwingend ihre Unabhängigkeit? All das wird leidenschaftlich diskutiert, und als Leser hat man das Gefühl, mittendrin zu sein.
Aber natürlich sind da auch noch all die privaten Geschichten, Beziehungskrisen, Eitelkeiten, Eifersüchteleien. Selbst wenn es um Freizügigkeit, Überkreuz–Verhältnisse oder die erstaunlich offen diskutierte Enttabuisierung von Sex und Begehren geht, wirken die moralisch unterfütterten Positionen überaus modern; Beauvoir ist da ebenso rigoros wie konsequent. Und ihr gelingt eine präzise Figurenzeichnung aufgrund fein ziselierter, fast theatralisch angelegter Dialoge. Ein quirliger Roman, in der Neuübersetzung erst recht.
Simone de Beauvoir: Die Mandarins von Paris. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Claudia Marquardt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024, 1020 S., 45.-€


aus biograph 02/2025

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