Das ist fraglos ein ungemein originelles Buch. Sein Autor, John Sanford (1904–2003), von Hause aus Rechtsanwalt, verfasste den nun zum ersten Mal auf Deutsch erschienenen Roman 1943, chronologisch war es sein vierter. Kein easy–reading, das vorneweg, eher ein Buch für fortgeschrittene Leser, dafür aber kann man sich auf einige Überraschungen gefasst machen und am Ende staunen, wie zeitlos der Roman in seinen Kernaussagen ist.
Ein gewisser Dan Hunter, Pfarrer in Warrensburg, einer Kleinstadt im Nordosten der USA, stellt zu Beginn Mitglieder seiner Gemeinde vor, darunter Doc Slocum, ein Arzt, zu dem viele kommen, um ihre Zipperlein behandeln zu lassen oder einfach nur, um loszuwerden, was ihnen auf der Seele liegt. Durch ihr eigenwilliges Auftreten, ihre zum Teil verschrobenen Kommentare, lassen sie sich bereits ein Stück weit charakterisieren. In kurz gehaltenen Szenen, Spots ähnelnd, offenbart sich verborgener Hintersinn, man rätselt manchmal. Insgesamt zeigt sich das heterogene Bild einer Gemeinschaft, die sich zwar etwas spleenig geriert, im Grunde aber harmlos erscheint. Denkt man. Schon bald aber gerät etwas ins Rutschen, man erkennt besser, wie die Leute ticken. Vor allem schotten sie sich gegen alles ab, was ihnen fremd erscheint und ihrem Weltbild zuwiderläuft. Ihre Ressentiments sind aus Beton.
Eine schwarze Frau betritt einen Gemischtwarenladen, erkundigt sich nach einer Bleibe für die Nacht, doch der Inhaber, ein gewisser Polk, kanzelt sie als „Niggerin“ ab, lehnt Hilfe ab; Polk schickt sie ins Pfarrhaus zu erwähntem Dan Hunter. Der wird in der Folge der Einzige sein, der sich für sie, America Smith, einsetzt. Ohnehin weiß er ziemlich gut, was er von seiner Gemeinde zu halten hat, an einer Stelle bezeichnet er seine Leute als „südstaatenfreundliche Hurensöhne“ – ein nicht eben schmeichelhaftes Urteil aus dem Mund eines Pfarrers.
Was strukturell auffällt: Sanford unterbricht den Erzählfluss durch verschiedene, auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftige Episoden; sie fußen zwar oft auf einem historischen Hintergrund, scheinen zunächst aber nicht recht zum Plot zu passen. Diese Einschübe gehören zur Eigenwilligkeit dieses Romans, man sollte sich nicht beirren lassen und bei der Stange bleiben. In einigen Episoden wird die Geschichte des amerikanischen Rassismus verhandelt, auch ein gewisser Columbus kommt da ins Spiel.
Dieses mittlerweile 80 Jahre alte Werk erstaunt vor allem durch seine Aktualität. Auf die frappierende Doppelmoral der Gemeinde reagiert als Einziger Dan Hunter. Neben Rassismus oder der allgemein akzeptierten Annahme, Gott sei ein Weißer („Das sagen die Bilder“), stehen außer dem verheirateten Pfarrers Peabody, der sich mehrfach an einem Mädchen vergangen hat (das Bonmot „Geil wie ein Pfarrer“ steht da tatsächlich im Raum) und sich nun vor Gericht verantworten muss, weitere Figuren am Pranger. Ein gewisser Emerson, Bordellbetreiber, denunziert die vollkommen integre Gracie Paulhan als Hure und macht auch keinen Hehl daraus, wie sehr er America Smith ablehnt. Der Schlimmste von allen ist wohl Eli Bishop, ein schmieriger Typ, der mit seiner rassistischen Agenda nie hinterm Berg hält – und bei America Smith dennoch vor allem an schnellen Sex mit ihr denkt. Als sie ihm klar sagt: „Ich mag deinen Geruch nicht, weißer Mann“, schlägt er ihr ins Gesicht und vergewaltigt die Bewusstlose gleich noch vor Ort.
Eine fabelhafte Gesellschaft also. Weiteres Blut wird fließen, America Smith schnappt sich schließlich eine Pistole und regelt die Sache auf ihre Weise. Sheriff Smead, der den Showdown mitangesehen hat, macht keine Anstalten, einzuschreiten. Vielleicht ahnt er, dass er gegen das Grundübel dieser Gemeinde ohnehin auf verlorenem Posten wäre.
John Sanford: Die Menschen vom Himmel. Roman. Aus dem Amerikanischen von Jochen Stremmel. Edition Tiamat, Berlin 2023, 278 S., 30.-€
aus biograph 04/2024
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