Detektiv Philip Marlowe löst in „Das hohe Fenster“ – das Original ist von 1942 – seinen zweiten Fall (nach „Der große Schlaf“), erneut ist er als eigensinniger, nicht unbedingt auf dem Boden des Gesetzes stehender, dafür chaotisch–genialer Privatschnüffler unterwegs, manchmal wirkt er wie ein Vorläufer von Columbo, vielleicht nicht ganz so schusselig. In der Geschichte geht es allem Anschein nach um den Raub einer Münze, einer wertvollen Dublone aus dem Besitz einer ebenso reichen wie abgehobenen, ziemlich unattraktiven kalifornischen Witwe („sie hatte Unmengen an Gesicht und Kinn“), die unserem Meisterdetektiv rasch ihren eigenen Verdacht auftischt: dahinter stecke niemand anders als ihre Schwiegertochter, die auffälligerweise komplett von der Bildfläche verschwunden sei. Marlow möge diese Frau aufspüren und noch andere Dinge für sie, Mrs. Murdock, erledigen. Er ahnt, dass der jungen, des Diebstahls bezichtigten Frau, die sich als Nachtclubsängerin verdingt, nur etwas in die Schuhe geschoben werden soll. Marlowe zieht seine Schlüsse lieber selbst – überhaupt: wäre ja noch schöner.
Das ist der Auftakt für weitreichende Ermittlungen, sie treiben ihn tief in den Schlund menschlicher Verdorbenheit. Marlowe, wir denken natürlich an Humphrey Bogart aus „The big sleep“, wirkt routiniert, bisweilen aber auch leicht ungehalten, etwa, wenn seine Ironie bei den Leuten nicht verfängt. Auch er weiß, dass er mit Bestechung bzw. zackigen Geldangeboten die nötigen Informationen rascher bekommen kann, dennoch kommt die Sache eher schleppend voran.
Die Geschichte erweist sich als reichlich verwinkelt und mit zahlreichen falschen Fährten versehen, man sollte konzentriert bleiben. Marlowe (bzw. Chandler) zeigt sich als genialer Beobachter, und das nicht nur, wenn er die Gestik oder die Reaktionen der betreffenden Leute und ihre verquere Psyche unter die Lupe nimmt; auch in der Beschreibung von Örtlichkeiten hat er ein gutes Auge. In der heruntergekommenen Szenerie von Bunker Hill, in der er recherchiert, liest sich das zum Beispiel so: „Trübe Türen mit Zahlen in trüben Farben. (…) Hinten in der Diele eine Fliegengittertür und in der Gasse dahinter vier große verbeulte Mülltonnen in einer Reihe, über denen Fliegen in der langgeschäfteten Sonnensäule tanzten.“ Visuell ist das gut eingefangen.
Die von Marlowe selbst so bezeichnete „Deduktionsarbeit“, das permanente, wahlweise nickelige Nachfragen in einer rundweg hochverdächtigen Entourage sowie die damit verknüpften Kommentare, wirkt oft flapsig, wenn nicht hingerotzt, sodass man sich fragt, ob diese Sprache noch den Charakter des Detektivs wiedergibt oder ihn soziologisch bereits ein Stück weit diskreditiert. Denn auch ohne das englische Original zu kennen, sind immer wieder Auffälligkeiten auszumachen. Sieht man sich seine (deutsche) Sprache in dieser Neuübersetzung etwas genauer an, fällt auf, dass bei Ulrich Blumenbach der Meisterdetektiv ein ganzes Stück hemdsärmeliger, wo nicht prolliger rüberkommt. Er sagt Sachen wie „Machen Sie sich nicht ins Hemd“ oder „Darauf ist geschissen“, er erachtet den einen oder anderen als „verpeilt“, bemerkt, dass einer sich „die Birne zulötet“ bzw. „die Kante gibt“ und dass irgendein „Scherzkeks“ endlich „in die Puschen kommen“ solle; und statt „Tschüss“ verabschiedet er sich dann mit „Bis denne!“ Diese Schnoddrigkeit muss man also mögen, die Übersetzung scheint sich an einigen Stellen einer dem Zeitgeist geschuldeten Beflissenheit verschrieben zu haben. Man kann das alles natürlich auch ignorieren, für Unterhaltung ist ja bestens gesorgt. Der Diogenes Verlag hat angedroht, uns weitere Neuausgaben zu Raymond Chandler aufzutischen. Wir freuen uns.
Raymond Chandler: Das hohe Fenster. Roman. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 320 S., 24.-€
(aus biograph 04/2023)
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