Es ist der dritte und letzte Band der Charly–Renn–Trilogie, und die Begründung für das Ende liefert Michael Kleeberg im Epilog: Es wäre unwürdig, dem Mann beim weiteren Älterwerden (er ist gerade mal sechzig) zuzusehen. Vielleicht hat er ihn nach so vielen Jahren aber einfach nur über, seinen Charly Renn, denn ein ausgewiesener Sympathiebolzen ist und war er im Grunde nie.
Man wohnt dem Abschluss einer aufgewühlten Biografie bei, verkörpert durch eine Figur, die nach allerlei privatem und beruflichem Holterdiepolter auch eine Reihe von Abstürzen zu verarbeiten hat, dokumentiert durch einen nicht ganz von Dünkel befreiten, dafür aber recht reflexionsversnobten Charakter. Mal luzide, mal profan wirken die feilgebotenen Überlegungen eines Mannes, der mit den vielschichtigen Nachwirkungen seiner früheren Entscheidungen zu hadern scheint und nunmehr versucht, bei allem Schlamassel den Überblick und auch seinen Humor nicht zu verlieren.
Gleich zu Anfang wird der Ton gesetzt, und der weist eine schöne Prise Bissigkeit auf. Charly lädt zu seinem 60. Geburtstag ein, es ist kurz vor Corona, eine allem Anschein nach renommierte Gesellschaft gibt sich auf einer Party ein Stelldichein, die schillerndsten Leute legen nolens volens einiges von sich offen, wenn sie nicht gleich durch Charlys Kommentare rundweg kompromittiert werden.
Äußerlichkeiten dominieren, alle haben mit Zipperlein zu tun, das gehört zum Programm, die aufgezählten Medikationen verweisen auf eine Palette altersbedingter Beschädigungen. Die Jugend erscheint sinnigerweise als Zitat im Hintergrund, drinnen im Haus, wo lautstark Jaggers „I can’t get no satisfaction“ läuft, und wozu eine gealterte Gemeinde auf der Terrasse ausgelassen mitwippt. Ihr selbstverlogenes Signal: Alter kann uns nichts anhaben!
Charly hat hingegen noch mit der Aufbereitung einiger (gescheiterter) Beziehungen zu tun, das Thema kehrt immer wieder, wobei die Kenntlichmachung der Namen etwas bedenklich wirkt, denn die betreffenden Frauen heißen hier schlicht pH1 bis pH5 („post Heike“ von 1 bis 5). An ihnen, an den alten „Problembeziehungen“, arbeitet er sich weiterhin ab, was wir als ein neuerliches Merkmal eines in die Jahre gekommenen Mannes verstehen.
Einige Zeitphänomene mit bundesrepublikanischem Hintergrund werden angeschnitten, auch ganz aktuelle, von AFD über Corona (samt Impfgegnern) bis hin zum Ukrainekrieg (samt Putin–Verstehern), die Diskussionen entsprechen den gängigen Aufregungsstandards, wobei auch das eine oder andere Klischee bedient wird. Aber man bleibt bei der Stange, Kleeberg ist ein akribischer Beobachter. Der Tod, oder der Todesgedanke, bleibt sein Begleiter und wird konkret, als es die eigene Familie trifft: Charlys Vater stirbt und das offizielle Hamburg initiiert eine voluminöse Zeremonie für den „Sohn der Stadt“, hier wiederholt sich ein wenig die Partyszene des Anfangs – viel Gewese, wenig Substanz. Charly übernimmt sich am Ende mit der Leitung einer kulturellen Einrichtung, da wird ihm auf einmal Übergrifflichkeit gegenüber zwei Ukrainerinnen vorgeworfen; der Stadtrat setzt ihn vor die Tür. Charly, der sich einfach nur missverstanden fühlt, flieht in die Schweiz, wo er immerhin noch eine Wohnung hat.
Das alles liest sich prächtig, und man schmunzelt, das Einzige, was man monieren könnte, ist Kleebergs oft abwesender Sinn für Ökonomie. Man sehnt sich nach Straffung, nach Weniger, nach Leerstellen, zu häufig verliert sich der (zumeist allwissende) Erzähler im detaillierten Klein–Klein. Leser, die mit diesem dritten Band, also dem Abschluss der Trilogie, Kleeberg zum ersten Mal wahrnehmen, sind im Vorteil. Denn sie könnte die unleugbaren Stärken von „Dämmerung“ dazu verleiten, Charlys Renns Geschichte von Anfang an kennenlernen zu wollen. Was bestimmt kein Fehler ist.
Michael Kleeberg: Dämmerung. Roman. Penguin Verlag, München 2023, 477 S., 26.-€
aus biograph 01/2024
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