Maylis de Kerangal hat bislang mit jeder neuen Veröffentlichung unter Beweis gestellt, dass sie zu den originellsten literarischen Stimmen Frankreichs gehört. Ihr Spektrum ist breit gefächert: Ob es, wie bereits vor Jahren, um die zahlreichen Facetten der Globalisierung geht („Die Brücke von Coca“, 2012) oder um die brisanten Implikationen einer Organspende („Die Lebenden reparieren“, 2015) – stets legte sie ihren Finger in individuelle oder auch gesellschaftliche Wunden, in problematische Schnittstellen, zeigte ungewöhnliche Komplexitäten auf und blieb dabei doch spektakulär feinsinnig, wurde nie laut. Genau dadurch verschaffte sie sich Gehör.
Ihr neuer Roman, ein Miniroman von nicht einmal 100 Seiten, erschien im Original ebenfalls bereits 2012. Auch hier zeigt sich, gerade auf dem Hintergrund des Ukrainekriegs, eine auffallende Aktualität. Zu Anfang sehen wir eine Gruppe von russischen Rekruten, die zu ihren Kasernen weit im Osten des Landes gebracht werden, man verfrachtet sie in die Transsibirische Eisenbahn. Unter ihnen Aljoscha, 20 Jahre alt, der naiverweise bis zuletzt gehofft hatte, dem Militärdienst entkommen zu können. Diese Möglichkeit hätte sogar bestanden: Hätte er rechtzeitig eine Frau gefunden und sie geschwängert, wäre er vom Dienst befreit gewesen, ab dem 6. Monat Schwangerschaft gilt (oder nunmehr: galt?) in Russland eine entsprechende Regelung. Stattdessen greifen die Regeln der Soldateska, und die bekommt jeder Rekrut uneingefordert am eigenen Leib zu spüren.
Mit jedem Kilometer im gemächlich dahinschleichenden Zug wächst Aljoschas Angst, ihm ist klar, dass Sibirien ein Ort der Verbannung ist, er weiß um die früheren Deportationen. In ihm reift der Entschluss, zu desertieren. Er könnte sich unter die anderen Reisenden mischen – aber kann das auch funktionieren?
Zwei sehr unterschiedliche Frauen kommen ihm zu Hilfe. Zum einen eine offizielle Zugbegleiterin, die zunächst wenig vertrauensvoll erscheint, sich nach und nach aber auf Aljoschas Seite schlägt; zum anderen eine Französin, Hélène, mit der er sich nur in einfachster Gestik verständlich machen kann, er spricht kein Französisch, sie kein Russisch; sie ist unterwegs zu ihrem Mann oder Geliebten, der irgendwo in der Pampa für einen Staudamm zuständig ist. Im Grunde ist auch Hélène auf der Flucht, denn sie will gar nicht dorthin, zu ihm, vielleicht sucht sie nur nach einer Möglichkeit, dies zu verhindern. Aljoscha und Hélène – zwei Flüchtende, die gänzlich unterschiedliche Motive haben, sich aber für kurze Zeit auf flirrende Weise zusammentun.
Sie verstaut seinen Drillich, gibt ihm aus ihrem Koffer eine Jeans und ein Hemd, damit er als Soldat nicht mehr zu erkennen ist, versteckt ihn in ihrem engen Abteil, macht sich aber zunehmend verdächtig und gerät bei Kontrollen in Gefahr. Immer wieder lässt ein Feldwebel die Rekruten antreten. Einer fehlt, die Suche im Zug beginnt. Ein ums andere Mal scheint das Geschehen fatal zu kippen – bis zu einem Ende, das wohl niemand auf dem Zettel hatte.
Der Roman ist ein Kammerstück, allein die beengten Räumlichkeiten sorgen für eine Nähe, die schlagartig bedrohlich erscheint. Intime und private Belange werden zugleich auch zum Inbegriff von Schutzlosigkeit, Übergriffe immerzu möglich. Eine konzentrierte, dabei oftmals poetisch anmutende Sprache (die Übersetzung ist übrigens sehr gelungen) konterkariert das krude Geschehen. Und mit jedem Kilometer, den die beiden dem Zielbahnhof näherkommen, erhöhen sich abermals Druck und Spannung – das schmale Buch entwickelt sich beinahe zum Pageturner. Unbedingte Leseempfehlung.
Maylis de Kerangal: Weiter nach Osten. Roman. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 91 S., 20.-€.
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