Wenn von Werner Herzog die Rede ist, fällt früher oder später der Name Klaus Kinski. Der umtriebige Regisseur und der exzentrische, stets mit dem Wahnsinn kokettierende Schauspieler bildeten über viele Jahre ein widersprüchliches und zugleich symbiotisches Paar, das sich, in bisweilen theatralisch wirkenden Inszenierungen, auch tatsächlich und ganz konkret an die Gurgel ging. In der Regel waren beide Opfer und Täter zugleich, Herzog gibt hier an einer Stelle unumwunden zu: einmal gar lauerte er dem notorisch auf Krawall gebürsteten Kinski hinterrücks mit dem Messer auf. Hätte auch schief gehen können.
Bis es allerdings wirklich losgeht in Werner Herzogs ereignisreichen Erinnerungen, muss man einige Seiten hinter sich bringen, in denen er in auffallendem Plauderton auf seine Kindheit in Sachrang, einem kleinen bayrischen Provinzkaff, rekurriert; natürlich lässt sich da Aufschlussreiches über das familiäre Umfeld in Erfahrung bringen, über die zahlreichen Probleme der Nachkriegszeit, die Kindheit prägenden Entbehrungen. Aber das kommt einem recht bekannt vor, man hat das so oder so ähnlich schon öfters gelesen. Mit Kinskis Auftritt, den Herzog als Jugendlicher in der Nachbarschaft eher zufällig kennenlernt, ändert sich der Ton. Von Beginn an fasziniert ihn das ihm innewohnende Anderssein, das irrational aufscheinende Potenzial, weil es ein Stück weit, man muss es so sehen, seinem eigenen Wesen entspricht. Fünfzehn Jahre nach der ersten Begegnung wird Herzog Kinski für seinen Film „Aguirre oder der Zorn Gottes“ als Hauptdarsteller verpflichten (für den ursprünglich übrigens Jason Robards vorgesehen war, der dann krankheitsbedingt ausfiel; als zweiter Hauptdarsteller sollte ein gewisser Mick Jagger fungieren, wurde auch nichts draus). Zweifellos der Anfang einer wunderbar streitintensiven Beziehung; es sollten noch vier weitere Spielfilme in Gemeinschaftsarbeit entstehen, wobei „Fitzcarraldo“ heraussticht.
Herzog erzählt seine Erinnerungen gegen alle Chronologie, er zieht es vor, assoziativ vorzugehen. Bisweilen tauchen einige zusammenhanglose Sätze auf, sie erscheinen unvermittelt und wirken manchmal auch lapidar: „Ich halte das 20. Jahrhundert in seiner Gesamtheit für einen Fehler.“ Wenn konkrete Erinnerungen ihm Anlass geben, springt er Knall auf Fall in seine Jugend zurück. So erfährt man autobiografisch Relevantes eher unerwartet, was die Überraschung dann umso größer macht. Etwa, wenn Herzog, der aus einem atheistischen Elternhaus stammt, berichtet, dass er im Alter von 14 Jahren in die katholische Kirche eintrat mit der Begründung, dass es ihm zuvor an „Transzendentem“ gemangelt habe. Und wie so oft im Leben, startet auch er eher holprig in den Beruf, ergattert unbeleckt und ahnungslos den Posten eines Regieassistenten. Seine erste Kamera, so erzählt er, entwendet er in einem unbeobachteten Moment aus einem Lagerraum für technisches Gerät. „Ich hatte eher das Gefühl von Enteignung als von Diebstahl (…), ich empfand es als Naturrecht, eine Kamera ihrer angemessenen Bestimmung zuzuführen“. So lautet wahrscheinlich die wohlfeile Erklärung eines jeden Diebes. Als er gegen alle Widerstände eine eigene Firma gründet, geht es allerdings richtig los.
Hat man sich also erst an den nicht–linearen Erzählduktus gewöhnt, folgt man Herzog jederzeit gern bei seinen oftmals unfassbaren Abenteuern rund um den Globus. Es sind nicht nur die chaotischen Dreharbeiten zu „Aguirre“ oder „Fitzcarraldo“ im südamerikanischen Busch; Herzog überlebt zwei Flugzeugabstürze, hat unzählige Verwundungen und Knochenbrüche; ein ums andere Mal springt er dem Tod so gerade eben noch von der Schippe. Seine Erinnerungen belegen ein wildes Leben, das übrigens bis heute, mit über 80, seine ungestümen Eskapaden fortzuschreiben scheint.
Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Hanser Verlag, München 2022, 350 S., 28.-€
(aus biograph 03/2023)
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