Über Knut Hamsuns Klassiker „Hunger“ von 1890 ist viel diskutiert worden, zumeist, um zu diesem entschieden ambivalenten Ergebnis zu gelangen: Eigentlich ein herausragendes Werk, aber ein „No–go“ wegen Hamsuns unverblümter Affinität zum deutschen Nationalsozialismus, ein Umstand, der ihm bei allem Lob stets unter die Nase gerieben wurde und, da er sich zeitlebens nicht wirklich distanzierte, seinen Ruf nachhaltig ruinierte. Nun liegt eine Neuübersetzung des Romans vor und damit die Gelegenheit, dieses Werk und seine literarische Qualität neu zu bewerten; derartige Revisionen haben in jüngerer Vergangenheit, mit mehr oder weniger Wirkung, auch bei anderen problematischen Autoren stattgefunden, etwa bei dem Franzosen Drieu La Rochelle.
„Hunger“ ist die Darstellung einer allumfassenden Misere, eines aus Geldnot resultierenden, vollständigen Niedergangs. Zunächst ist man bei Hamsuns namenlosen Ich–Erzähler sogleich an andere Figuren der Literatur erinnert, an arme, in der Regel randständige Männer wie im Werk Dostojewskis oder, konkreter, an die heruntergekommenen, dabei nicht unsympathischen Loser bei Emmanuel Bove (vor allem an Victor Batôn in „Meine Freunde“ und Nicolas in „Die Verbündeten“); und gerade an ihn, Bove, denkt man, wenn Sätze zu lesen sind, die der geschilderten Not eine eigentümliche Sichtweise bzw. Originalität verleihen: „(…) normalerweise lag ich nachts auf meinen Strümpfen, um sie bis zum Morgen ein wenig zu trocknen.“ Oder: „Ich schwärzte meine Hose mit Spucke, um etwas anständiger auszusehen.“ Zu diesem Zeitpunkt ist man aber noch recht früh im Roman, dem jungen Mann geht es verhältnismäßig gut, das Schlimmste steht noch bevor. Hamsuns Protagonist hält sich mit Artikeln fürs Feuilleton einer Zeitung so eben über Wasser, seine Lage wird aber zusehends prekärer, unter dem Druck des Hungers lässt seine Schaffenskraft nach, bald gibt es für ihn gar nichts mehr zu beißen, der Mann leidet, dass es ihn in den Wahnsinn treibt.
Was nun bei aller Misere überrascht, ist der intakte Optimismus dieses Antihelden, der bei allem exzentrischen Verhalten seltsam frohgestimmt bleibt, Humor zeigt, plötzlich lacht. Das meiste aber bleibt herzzerreißend: In seinem Elend kaut dieser Hungerkünstler auf einem Holzspan herum, was ihn eine Zeit lang das Magengrimmen vergessen lässt, oder er lutscht, nur um sich die Illusion einer kleinen Sättigung zu geben, einen Kieselstein. Bei einem Schlachter besorgt er sich, vorgeblich für seinen Hund, einen Knochen, den er dann natürlich selber abnagt, nur um sich hernach fürchterlich übergeben zu müssen. Und selbst die fünf pisseligen Knöpfe seines Rockes kriegt er nicht verkauft, so tief ist er gesunken.
Dass er ein herzensguter Mensch ist, unterstreicht er, indem er anderen Bedürftigen auf der Straße eine Kleinigkeit geben will und zerknirscht feststellen muss, dass er keine einzige Øre zum Hergeben mehr hat. Ebenso vergeblich erweisen sich die Kontakte zu anderen Mitmenschen, und es überrascht dann, dass es doch zum Austausch von Intimitäten mit einem Mädchen kommt, das ihm gewogen ist (obwohl er sich anhören muss, dass er hässlich sei, weil er seine Haare verliert); eine scheinbar hoffnungsvolle Begegnung, die in totaler Verkrampfung mündet. Schließlich wird er, weil er seine Wirtin nicht mehr bezahlen kann, sein Zimmer verlieren, wird sein unter Mühen verfasstes religiöses Drama zerreißen und am Ende auf einem Schiff anheuern, um Kristiana – das heutige Oslo – für immer zu verlassen.
Astrid Lindgren fand das Buch „hinreißend komisch“, das erscheint einem zumindest seltsam. Dass man bei all dem geschilderten Elend überhaupt zum Schmunzeln kommt, ist nur diesem einmaligen Charakter – und Hamsuns großartiger Romankunst zu verdanken.
Knut Hamsun: Hunger. Roman. Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg. Manesse Verlag, München 2023, 253 S., 25.-€
aus biograph 06/2023
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