Venedig wurde der Untergang schon immer prognostiziert, es ist eine ständig sich wiederholende Erzählung. Klar ist: ihre allseits beschworene Dekadenz trägt diese Stadt mit sich wie die Schnecke ihr Haus, seit jeher sind jene Szenarien benannt, die das baldige Ende der Lagunenstadt beschreiben. Die marode Stadtarchitektur dürfte dabei nur ein, wenngleich gravierender, Punkt sein, eine komplette infrastrukturelle Überforderung sowie die notorische Überlastung in allen für den Tourismus relevanten Bereichen kommen hinzu, alles zusammen mündet im dramatischen Herausbeschwören einer Apokalypse in naher Zukunft.
Die berühmte, ehemalige Weltumseglerin Isabelle Autissier hat sich seit längerem dem Verfassen von Prosa zugewandt und sich für ihren neuen Roman ein durchaus glaubhaftes dystopisches Szenario ausgedacht. Und da kommt es gleich knüppeldick, alle nur denkbaren negativen Anzeichen verdichten sich zum schieren Horror. Zu Anfang ist das Unvorstellbare bereits eingetreten, die Lagunenstadt wurde soeben durch eine immense Flutwelle zerstört. Auch mit Erklärungen zum vollumfänglichen Versagen ist man schnell bei der Hand: fahrlässige Bauentscheidungen wie etwa das Tieferlegen der Fahrrinnen für Luxuskreuzschiffe, die ungezügelten Touristenströme mit all ihren jahrelang übersehenen Belastungen, dazu die schon seit Jahrhunderten angegriffene Baustruktur und last not least natürlich der aktuelle Klimawandel sowie mächtige Eigeninteressen interessierter Gruppen. Alle Welt war also vorgewarnt, wusste hinreichend Bescheid, stattdessen wurde überall nur weggeguckt.
Guido ist ein geradeaus denkender Mann, als Mitglied des Stadtrats und ausgewiesener Wirtschaftsexperte sieht er die urbanen Belange naturgemäß aus einem eher utilitaristischen bzw. pragmatischen Blickwinkel heraus, selbst wenn er seine Stadt zweifellos liebt und gewiss auch kein Dummkopf ist. Gleich zu Anfang schippert er durch die in weiten Teilen verwüstete Stadt, nach drei Wochen ununterbrochenen Regens und einem Sturm aus dem Süden sind die Deiche gebrochen. Außerdem hat Guido einen konkreten persönlichen Verlust zu verzeichnen – seine Frau stirbt, nachdem das Haus nachgibt und sie unter den einstürzenden Decken begraben wird.
Dabei, und nun gelangt man zur Vorgeschichte, sollte ein gerade installiertes Sperrwerk namens M.O.S.E. (das gibt es tatsächlich) dieses Szenario gerade verhindern. Es hat aber versagt, und es ist ausgerechnet Guidos 17–jährige Tochter Léa, die früh auf die Unbrauchbarkeit genau dieses Systems hingewiesen hat. Nun positioniert sie sich noch stärker als Kämpferin, ein Vater–Tochter–Konflikt zeichnet sich ab um die gerechte oder nur halbwegs richtige Einschätzung des Desasters. Während sie sich zusehends radikalisiert, bleibt Guidos Blick materialistisch orientiert, er begreift die Massen von Touristen immer noch als nicht in Frage zu stellende Einnahmenseite und argumentiert mit den 40.000 Arbeitsplätzen, die es in der Stadt zu sichern gelte. Mit ein paar zu allem bereiten Mitstreitern ruft Léa zum Widerstand auf, was allerdings bald zum Aufstand ausufert, und als die Polizei wild drauflosknüppelt, laufen die Dinge vollends aus dem Ruder.
Isabelle Autissier gelingt ein plastisches Szenario mit einem guten Auge für dramatische Ökonomie, nur wenige Szenen erscheinen etwas zu dick aufgetragen. Verschränkt sind die Bilder der Katastrophe mit den individuellen Interessen der einzelnen Figuren, daraus zieht das Geschehen seine Dynamik. Vor allem schafft es Autissier – was bei diesem Thema, dieser Kulisse, nicht ganz einfach ist –, die zahlreich sich anbietenden Klischees zwischen Rialtobrücke und Markusplatz einfach unbeachtet zu lassen und ihren Blick fokussiert zu halten.
Isabelle Autissier: Acqua alta. Roman. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. Mare Verlag, Hamburg 2024, 205 S., 23.-€
aus biograph 06/24
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