Gleich mit der ersten Story scheint der Ton gesetzt zu sein: Ein Großvater antwortet auf die e-mail seines Enkels und gibt diverse Befindlichkeiten preis, bringt seine Sorge um die Lage des Landes, den USA, zum Ausdruck, und spätestens, wenn von einem „Clown“ die Rede ist, der „in dein Wohnzimmer kommt und auf den Teppich kackt“, wissen wir, von welchem Präsidenten hier die Rede ist. Großvaters Absicht ist es, den Enkel politisch zu motivieren, ihn aufzuwecken: radikal soll er sein, zugleich aber auch vorsichtig bleiben, denn die Dinge haben sich verkompliziert, niemand weiß, wie weit man noch gehen kann oder wem vertrauen. Für den Fall, dass dessen Unternehmungen, wie immer sie aussehen, schlecht liefen und ihn ins Gefängnis führten, sichert er ihm finanzielle Hilfe zu. Noch hat der alte Mann Hoffnung, „wenn (falls) diese Sache vorübergeht, das Land seinen Weg in die Normalität findet“.
Das klingt unangenehm, fast bedrohlich, und das soll es wohl auch, die in dem Brief ausgedrückte Sorge wirkt echt. Damit kein Missverständnis aufkommt: Saunders will keine politischen Statements abgeben oder überhaupt einer engagierten Literatur das Wort reden. Das untermauern die anderen acht Stories, in denen es um psychische Dilemmata geht, um Unsicherheiten und Ängste in hochprekärer Zeit. Saunders betont zwar den subjektiven Input und berührt damit Fragen individueller Verantwortung, zeigt aber vor allem deren Schwundstufen, was bis zur Selbstversklavung seiner Figuren reicht, die psychisch weitaus beschädigter sind als sie es sich selbst eingestehen würden.
In der verstörenden Erzählung „Die Mom der kühnen Tat“ sorgt sich eine verhaltensauffällige Mutter um ihren Sohn, der eine „kranke Lunge“ hat (mehr erfährt man nicht). Der Junge ist ausgebüxt, vom heimischen Garten in den nahe gelegenen Wald. Als er zurückkommt, ist sein Gesicht voller Blut, angeblich sei er „gestoßen“ worden, ein Verdächtiger wird bald dingfest gemacht. Doch da kommt noch ein anderer Täter in Frage, und beide Männer landen bei der Polizei, werden indes bald wieder freigelassen, vermutlich sind beide schuldlos – womit sich die Mutter aber nicht abfinden will. In ihren Rachefantasien besorgt sie sich eine Pistole, schießt einem der Männer ins Bein, woraufhin der ein (falsches) Geständnis ablegt. Ihr Mann Keith kommt hinzu, der dem vermeintlich anderen Täter mit einem Baseball-Schläger das Knie zertrümmert, worauf dieser seinerseits die Polizei einschaltet und Anzeige erstattet. Am Ende steht eine kuriose, unerwartete Form von Läuterung, die ebenfalls irritiert: die heillos überforderte Mutter sieht ihre Fehler ein und erwägt, gleich beiden Männern zu helfen. Man sieht: Saunders Neurosenskala ist nach oben hin weit geöffnet.
Zugleich macht er es einem nicht leicht, einige Erzählungen versperren sich dem unmittelbaren Verständnis, trotz oder gerade wegen ihrer Originalität: man braucht Zeit, um zu begreifen, und manchmal fragt man sich, wovon die Rede ist – geht es da überhaupt noch um Menschen? In der Endzeiterzählung „Ghul“ sieht man eine heterogene, postmoderne Community, die ihre Zeit mit Rollenspielen in unterirdischen Räumen verbringt. Zwar gibt es dort Regeln, doch moralische Werte sind obsolet, als besonders chic gilt es etwa, sich gegenseitig anzuschwärzen. Dem Ort selbst entkommen diese ferngesteuerten Knechte nicht, dabei wähnen sie sich souverän. Spätestens, als eine nach oben ins Licht führende Röhre sich als Falle erweist (man gelangt lediglich in einen riesigen Totenraum), werden die gehegten Hoffnungen auf eine Außenwelt zunichte gemacht. Saunders kafkaeske, dystopische Düsternis ist beklemmend, man sei ausdrücklich vorgewarnt.
George Saunders: Tag der Befreiung. Stories. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Luchterhand Literaturverlag 2024, 320 S., 25.-€
aus biograph 07/2024
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