Die heute 77–jährige Lydia Davis gilt als Meisterin der Kurzform. Viele (nicht alle) ihrer Geschichten bestehen oft aus nur wenigen Sätzen. Sie scheint Spaß daran zu haben, dem Leser durch Verschlankung Rätsel aufzugeben, ihn damit aufzufordern, genauer hinzusehen und/oder zu ergründen, ob den einzelnen Beobachtungen – etwa den im Café oder im Restaurant abgelauschten Gesprächsfetzen, den harmlos erscheinenden Begegnungen im Alltag – nicht doch eine versteckte oder tiefere Bedeutung zukommt.
Vor allem aber ist sie eine Archäologin kleinster menschlicher Schwächen, und das kann in Nullkommanichts etwas Skurriles annehmen. In der Erzählung „Begebenheit im Zug“ verlässt die Erzählerin ihr Abteil, sie muss aufs Klo. Sie bittet ein junges Pärchen darum, zwischenzeitlich auf ihre Sachen aufzupassen, zeigt sich aber mit einem Mal, als sie das Pärchen genauer in Augenschein nimmt, verunsichert: Ist diesen Beiden überhaupt zu trauen? Sie bittet einen älteren Herrn, seinerseits ein Auge auf das Pärchen zu haben. Und so geht es weiter. Die Szene kippt beinahe ins Absurde, grundlose Verdächtigungen verdichten sich, Missverständnisse, falsche Zuordnungen, Spekulationen oder Irrtümer – etwa ein „Sichverhörthaben“ – legen die psychisch labile Grundverfassung der Protagonisten eher beiläufig frei.
Einige ihrer Erzählungen wirken skizzenhaft, wie eine Art narrativer Rohbau, wobei sich auch eine Pointe nicht zwingend (oder zumindest nicht sogleich) ergeben muss, was wiederum damit zu tun hat, dass Davis gern mit Leerstellen operiert. In der Titelstory „Unsere Fremden“ bilden sich mehrere Kleinstgeschichten zu einem Tableau unterschiedlicher Menschen im Alltag, thematisiert ist das schwierige Miteinander unter Nachbarn. Man registriert viel Feindschaft und Groll, eine Menge „böses Blut“, alles mündend in – mindestens – halbkriminellen Absichten. Ein Anwohner hat ein Holzschild an seiner Einfahrt angebracht, worauf nur ein Gewehr abgebildet ist sowie der Hinweis: Wir rufen nicht die Polizei.
In der Erzählung „Gespräch vor dem Abendessen“ blitzt, wie anderswo auch, Davis‘ hintergründiger Witz auf. Gezeigt ist die Krise einer Ehe anhand der über Jahre stattgefundenen, letztlich aber banalen Abnutzung kommunikativer Muster – ein Ehemann murmelt in der Küche vor sich hin, die Ehefrau sagt, sie habe ihn nicht verstanden; er unterstellt, sie wolle ihm ein schlechtes Gewissen machen, weil er Wein trinke, was sie leugnet. Sie: „Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht hören konnte, was du gesagt hast.“ Er: „Ah.“ Sie: „Was hast du gesagt?“ Er: „Ich weiß es nicht mehr.“ Ende der Story.
Die vielleicht schönste Geschichte lautet „Winterbrief“: Eine Mutter verfasst einen längeren Brief an ihre Kinder, in dem sie von einem gemeinsamen Kurzurlaub mit ihrem Mann (und deren Vater) berichtet. Hinter dem banalen Erzählduktus im Plauderton zeigt sich die ganze Misere einer psychisch angeschlagenen Frau. Ihr Mann interessiert sich für alles andere, nur nicht für sie, und sie berichtet nun von einem einsamen Spaziergang und einer angsteinflößenden Begegnung mit einem Waschbären, der sich ihr nähert – und sie im letzten Moment ignoriert, so als gäbe es sie gar nicht („Ich hätte genauso gut ein Baum sein können“). Ihr munteres, fast fröhliches Gequassel kann ihre Erschütterung nicht verdecken, die Tatsache mithin, von niemanden, nicht mal von einem wilden Tier, registriert (bzw. ernst genommen) zu werden.
Nicht alle Erzählungen Davis‘ besitzen diese Feinsinnigkeit, manches bleibt in einer vielleicht etwas zu sorglos eingesetzten Lakonie stecken, etwas Scharfstellung wäre da und dort wünschenswert gewesen. Dafür entschädigt ein Überraschungseffekt, der einen der Geschichte leise hinterherschmunzeln lässt.
Lydia Davis: Unsere Fremden. Stories. Aus dem Amerikanischen von Jan Wilm. Literaturverlag Droschl, Graz 2024, 306 S., 26.-€
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