Sein zehnter Film, „The Movie Critic“, soll im Herbst abgedreht werden und soll auch sein letzter sein (sagt der Meister selbst). Wenn man sein Buch „Cinema Speculation“ liest, lässt sich nachvollziehen, wie Tarantino aus einer zumindest halbneurotischen Kino–Verpeilung einen Beruf machte. Anfang der 70er–Jahre, er war etwa acht, suchte er zusammen mit seinen ebenfalls kinobegeisterten Eltern die Lichtspielhäuser der Umgebung auf. Dabeisein zu dürfen war an eine elterliche Bedingung geknüpft: Er hatte gefälligst die Klappe zu halten, durfte, schon gar nicht während der Vorführung, irgendwelche dummen Fragen stellen.
Meistens hielt er sich daran und kam so in den Genuss von Filmen, die Gleichaltrige wegen der aufgenötigten Altersfreigabe nicht sehen durften. Daher konnte er als Pennäler bereits auf einen immensen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Das Buch buchstabiert eine ganze Reihe kinematographischer Highlights der Zeit durch, wobei auffällt, dass es bei ihm – nicht untypisch für einen Jugendlichen – meist um eher actionträchtige Filme geht, mit reichlich Geballer und Toten drumherum. Mit der Zeit wird es seriöser. Tarantino stellt seine Lieblingsfilme vor, widmet ihnen Kapitel, durch die man mehr erfährt als aus irgendwelchen Nachschlagewerken oder Kinoplattformen im Netz. „Bullitt“ etwa, mit Star Steve McQueen („eine Ausgeburt der Coolness“), ein Film, meint Tarantino, den man nicht erzählen kann, weil er keinen wirklichen Plot hat, sondern von seinen Accessoires lebt, der Musik.
Oder „Dirty Harry“ mit dem höchst dubiosen Harry Callahan (Clint Eastwood) als Hauptfigur. QT hält fest: Der Streifen sei nicht, wie so oft beschrieben, faschistisch oder rassistisch, sondern „bloß“ reaktionär – wobei er die Kinozuschauer mit einbezieht: „‘Dirty Harry‘ verlieh ihren Ängsten Ausdruck, sagte ihnen, dass sie zu Recht so empfanden.“ Das ist insofern interessant, als der Film den agitatorischen Input auf das Publikum ausrichtet und ein heutiges Phänomen manipulativer Beeinflussung (Stichwort Trump) gleich mitreflektiert.
Desweiteren gibt es feine Beobachtungen zum Spätwestern „The Wild Bunch“ oder zum Flussfahrtdesaster „Deliverance“, ein besonderes Interesse gilt Scorseses „Taxi Driver“: Tarantino schildert die ersten Reaktionen des damaligen Kinopublikums, es wurde durch die Bank gelacht über den „Vollpfosten Travis“, bis zu dem Zeitpunkt, da Iris (Jodie Foster) in Travis‘ Taxi steigt und ihr Lude (Harvey Keitel) sie wieder herauszerrt – es war der (späte) Moment, von dem ab der Film wirklich ernst genommen wurde und die Lacher verstummten (Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt gelacht zuhaben, vermutlich sieht ein amerikanisches Publikum den Film komplett anders). Im titelgebenden Kapitel „Cinema Speculation“ sinniert er abermals über „Taxi Driver“ und die Frage „Was wäre, wenn?“ Also: Was, wenn Brian de Palma statt Martin Scorsese „Taxi Driver“ gemacht hätte? De Palma habe das Drehbuch gelesen, es sei ihm aber „nicht kommerziell genug“ gewesen. Es hätte, so Tarantino, eine andere Erzählperspektive gegeben, es wäre ein komplett anderer Film herausgekommen. Und keiner weiß, ob es hinterher diesen riesigen Erfolg gegeben hätte (u.a. Goldene Palme von Cannes, 1976).
Was ein klein wenig nervt an diesem wirklich unterhaltsamen Buch, ist das exzessive name–dropping von Filmtiteln und Namen, Tarantino befindet sich in einem detailverliebten Kinodampfplaudermodus. Andererseits lässt sich gut nachempfinden, wie es zu seinen ersten Filmen gekommen ist, zu „Reservoir dogs“ oder zu „Pulp fiction“. Es sind Filme, aber das gilt eigentlich für sein gesamtes Werk, die zu gleichen Teilen einen autobiografisch wie produktionsästhetisch relevanten Hintergrund abbilden – sie erzählen, was ihn einst prägte.
Quentin Tarantino: Cinema Speculation. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 394 S., 26.-€
aus biograph 05/2023
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