Auffallend viele Fragen stellt Frank Witzel in seinem neuen Buch. Das hat vornehmlich damit zu tun, dass der Gegenstand seiner Befragungen – seine Eltern – sich einer Annäherung, gar hinreichender Antworten, ständig entzieht. Witzel (Jahrgang 1955) untersucht diese elterliche Welt nach dem Tod der beiden und versucht herauszubekommen, was sie im Kern einst zusammenhielt, wie sich beispielsweise der Krieg bei ihnen niederschlug, warum so vieles nie erzählt bzw. notorisch verschwiegen wurde. Im Grunde kennt man diese erzählerische Ausgangsbasis schon ziemlich gut, das alles erscheint vorzugsweise in der deutschen Literatur hinreichend behandelt, derlei Hintergründe werden z.B. auch in den Romanen Gerhard Henschels (dort allerdings in strikter Chronologie) verhandelt. Witzel hingegen gibt seiner Recherche andere Gewichtungen und erzählt differenzierter, sein erkennbar autobiographisch ausgerichtetes Schreiben (auch schon länger ein Merkmal seiner Bücher) scheint darauf angelegt zu sein, eine Art Komplettdarstellung aller potentiellen Fragen zu liefern; ganz bewusst kokettiert er dabei mit einem Scheitern, dem Titel gebenden „Schiffbruch“.
Der Tod der Eltern, beide sterben im Abstand von zwei Jahren, ist also erzählerischer Ausgangspunkt, und gerade dem eigenen Vater, der in seiner Jugend ausführlich Tagebuch führte, geht er über die gesamte Länge des Buches akribisch nach; noch wichtiger wird jedoch die Frage nach dem eigenen Ich, dem eigenen Gewordensein im Schnittpunkt von Zufall und Determinierung. Bei aller Selbstreflexion versagen sich klare, eindeutige Linien, das ständige Mäandern zwischen Introspektion und äußerer Wahrnehmung, das Fragen und ständige Weiterfragen, ist der Unternehmung zwar fest eingeschrieben, macht sie gleichzeitig aber grundsätzlich prekär.
Zunächst lässt sich der gesamte „Roman“ nämlich als eine Art Puzzle begreifen, und Witzel betreibt seine Detektivarbeit sehr gewissenhaft, gerade in den aufgezeigten Mikrokosmen wird sie sinnfällig: Beim Leerräumen der väterlichen Wohnung etwa fällt ihm eine Schachtel mit aussortierten Fotografien in die Hände – sogenannter „Ausschluss“, der trotz seiner Mangelhaftigkeit aufbewahrt wurde und zwingend die Frage nach sich zieht, warum das Minderwertige nicht dem Mülleimer überantwortet wurde; denn nur die „guten“ oder „gelungenen“ Bilder gelangten in ein vorzeigbares Album: „Das Fotografieren war somit nie das unschuldige Festhalten des tatsächlich Existenten, sondern immer auch Inszenierung des Gewünschten“.
Erinnerungen, einzelne Spots, wechseln bei Witzel mit Traumsequenzen und philosophischen Analysen. Dabei fängt er ebenso beiläufig wie treffsicher die Atmosphäre der 60er–Jahre ein. Samstags, da ging es für den 10–Jährigen nachmittags zur Beichte in die Kirche, dann in die Badewanne, später durfte er (vielleicht) den „Beat–Club“ sehen. So waren die Muster: „(…) in der Fastenzeit keine Süßigkeiten. Freitags Fisch. Sonntags Rouladen. Die Entstehung des Glaubens aus der Diätik.“
Letztendlich geht es Witzel gar nicht um das Heraufbeschwören von Reminiszenzen; die Frage ist vielmehr, was man aus ihnen ableiten kann. Und wenn es eines zu hinterfragen gibt, dann sind es die erlangten, vermeintlichen Gewissheiten.
Ein hohes Reflexionsniveau, Zitate und Anleihen bei Adorno, Benn, Camus oder Kertész, weisen darauf hin, dass hier Existenzielles verhandelt wird. Die Schonungslosigkeit, mit der er seinen Eltern letzte Geheimnisse zu entlocken versucht, kann nur dazu führen – er weiß es –, dass alle Rätsel sich der Aufdeckung nur stärker verschließen. An der früh gefestigten Abwehr der Eltern beißt sich der Sohn zeitlebens die Zähne aus. Doch anscheinend, zum Glück für uns Leser, wachsen da auch immer wieder welche nach.
Frank Witzel: Inniger Schiffbruch. Roman. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020, 355 S., 25.-€
aus biograph 07/20
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