Die aus Algerien stammende Albertine Sarrazin verfasste nur zwei Bücher und wurde auch nur 29 Jahre alt, ihr kurzes Leben spiegelt eine durchaus tragische Geschichte wider. „Astragalus“ heißt das eine dieser beiden Bücher, es ist ein autobiographisch grundierter Roman, in dem gleich zu Anfang beschrieben ist, wie die blutjunge Anne, die wegen eines Raubüberfalls im Knast einsitzt, mit einem Sprung von einer zehn Meter hohen Mauer aus besagtem Gefängnis flieht; den Sprung bezahlt sie allerdings mit der Zertrümmerung ihres Sprungbeins, des Astragalus. Bald wird die Verletzte von Julien aufgelesen, einem Kleinkriminellen, der sie zunächst bei seiner Mutter unterbringt, wo sie auch weiterhin versorgt wird. Julien und Anne verlieben sich, doch beginnt hier nun kein kitschiger oder wie auch immer gearteter „amour fou“ à la Bonny und Clide, sondern eine eigenwillige subtile Beziehung von zwei gesellschaftlich Gescheiterten, die sich in Schicksalhaftigkeit begegnen, sich in den Grenzen ihrer Möglichkeiten aber wechselseitig zu unterstützen suchen. Auch Juliens Entourage kümmert sich um Anne, sodass sie schließlich zur Behandlung und mit gefälschten Angaben zur Person in ein Krankenhaus gelangt und dort operiert werden kann. Dabei wird ihr der Astragalus entfernt, werden ihr stattdessen zwei Stifte eingesetzt, was eine Versteifung zur Folge hat. Fortan humpelt Anne also durch ihr trostloses Leben. Doch vieles ändert sich auch, und die Stadt Paris wird zu einer Art Erweckung: „Paris, ich bin wieder da, ein Trümmerhaufen, aber ich fange wieder an zu leben und zu kämpfen.“ Sie ignoriert das Prekäre ihres Lebens, wissend, dass sie jederzeit auffliegen kann; sie hat keine Papiere vorzuweisen und prostituiert sich überdies – bloß ein wenig, wie sie sagt, im Grunde nur, um etwas dazuzuverdienen. Am Ende, damit verrät man nicht zu viel, wird sie von der Polizei doch noch geschnappt, und es ist, als habe sie selbst nie mit etwas anderem gerechnet. Ihr Abgang hat Stil, zeigt eine erhabene Nonchalance.
Der Roman selbst wirkt wie eine traurig-schöne Dokumentation existenzieller Verlorenheit und ist dennoch keine Variante der allseits bekannten Loser- oder Stehaufmännchengeschichten. Das mitunter planlos wirkende Sichhangeln von Situation zu Situation, das ziellose Hineinleben in den Alltag, verbindet Sarrazin mit sehr poetischen Momenten, ungewöhnlichen Perspektiven, einer eigenen Sprache. Man denkt ein wenig an Jean Genet, der für sich die Kriminalität wählte, um sich von der Gesellschaft abzusetzen und ihr damit gleichzeitig einen Spiegel vorzuhalten. Auch Anne entwickelt da eine ganz eigene Linie. Als Julien mal wieder verhaftet ist, fängt sie eine Beziehung mit dem Mechaniker Jean an, zieht auch bei ihm ein, obwohl sie Julien – im Kosmos ihrer ganz eigenen Ethik – irgendwie auch treu bliebt. Spätestens hier wird klar: Mit konventionellen Moralbegriffen kommt man bei dieser Frau nicht weiter, erfrischend abseitig und trotzig bahnt sie sich ihren Weg. Dass so zwei unterschiedliche, in Moralfragen aber wohl weitgehend ähnlich denkende Frauen wie Patti Smith und Simone de Beauvoir diesen autobiographischen Roman der damals – wir befinden uns mitten in den 1960ern – sehr jungen Albertine Sarrazin lobend heraushoben, kommt nicht von ungefähr. Anne geht ganz und gar unlarmoyant mit ihrem Schicksal um. Man folgt ihr jederzeit fasziniert.
Albertine Sarrazin: Astragalus. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Mit einem Nachwort von Patti Smith. Hanser Berlin, 2013, 232 S., 19.90 €
aus biograph 07/2013
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