Es beginnt mit einem Abschied an einem Bahnhof; im Grunde eine Allerweltsszene. Man schreibt das Jahr 1920, den jungen Eugene Grant zieht es weg von Altamont Richtung Norden, er will nach Boston und in Harvard studieren. Alles deutet auf großen Aufbruch hin. Familie und Bekannte haben sich auf dem Bahnsteig zusammengefunden, man wohnt mehr oder weniger aufgeregtem Tratsch bei, aber schon hier, bei den Nebenfiguren, wird, um die Stimmung einzufangen, auffallend viel auf Charakterzeichnung und Detail gesetzt. Eugene freilich will nur weg aus der heimatlichen Enge, weg von dem „traurigen Geheimnis des Südens“. Die Eröffnungsszene und die dann sich ergebende Zugfahrt mit den unterschiedlichsten Leuten im Abteil, den ausufernden Gesprächen, ist allein schon wegen ihrer unglaublich epischen Breite einmalig, detailliert sind die Bilder, träumerisch der Stil. Und es wird im Laufe dieses Romans nicht Eugenes einzige Zugfahrt sein; sinnbildlich steht dieses Unterwegssein für seine unendliche Lust auf Entdeckung, für das gesuchte Unbekannte, das Ausleben von Freiheit.
Der junge Eugene ist gleich in vielerlei Hinsicht ein Besessener, von Büchern aber im besonderen eingenommen, er zitiert gerne Shakespeare, es gibt Anspielungen auf die Bibel oder die griechischen Philosophen, gleichzeitig spürt man schon einen Hauch von Scheitern, etwa wenn es heißt, „(...) er wollte die Erde verschlingen, und die Erkenntnis, dass ihm dies nicht gelingen konnte, trieb ihn in den Wahnsinn.“ Die Großstadt ist zunächst sein Ziel, sie bildet den Antipoden zum vormaligen provinziellen Dasein und erscheint wie eine Apotheose all seiner Wünsche und Träume: „Was er auch sah, erfüllte ihn mit Qual, Hunger, Freude, Triumph, Hochgefühl und Entzücken oder einem grenzenlosen Überschwang wilden Frohsinns.“
Eugene will Schriftsteller werden, wird als Dramatiker aber scheitern, stattdessen später an einer New Yorker Universität Literatur lehren, dann nach Europa ziehen und hauptsächlich in London und Paris leben, wo seine Lehrjahre weitergehen. Insbesondere die Schilderungen aus dem Paris der 1920er Jahre zum Ende der Belle Époque hinterlassen einen starken Eindruck. Eugene zieht monatelang mit zwei Frauen und mit seinem Kumpel und späteren Antagonisten Frank Starwick durch die Bars und Etablissements der Stadt, man bekommt viel von dem hedonistischen Lebensgefühl dieser Zeit zu spüren. Dieser Frank, ein nüchterner Typ, erdet Eugenes schwärmerischen Idealismus: „Glaubst du wahrhaftig, du wirst weiser werden, wenn du eine Million Bücher liest?“ Starwick stellt damit nicht weniger als dessen gesamtes Weltbild in Frage.
Für diesen kiloschweren Bildungsroman mit seinen zahlreichen Episoden und Nebengeschichten braucht es einen längeren Atem. Das Buch erschien 1935 im Original und war die Fortsetzung eines anderen Wälzers: „Schau heimwärts, Engel“ von 1929, viel mehr war zu Lebzeiten Thomas Wolfes (1900-1938) nicht erschienen, er starb jung an Tuberkulose. Wolfe wusste wohl um die Tücke des beschriebenen Lebensgefühls im Ausdruck der Illusion: „(...) sie wussten, sie waren zwanzig und würden niemals sterben.“ Diese Hommage an die Jugend, mit all ihrer Euphorie, mit all den Zerknirschungen und Vergeblichkeiten, ist sein Vermächtnis. Jugend wird vergeudet, heißt es an einer Stelle, die Jugendlichen wissen nichts davon, die Alten hingegen wissen es, haben aber nichts (mehr) davon.
Thomas Wolfe: Von Zeit und Fluss. Roman. Aus dem amerikanischen Englischen übersetzt von Irma Wehrli. Manesse Verlag, München 2014, 1196 S., 39.95 €
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