Nicolas Mathieu wurde vor einem Jahr an dieser Stelle erstmalig vorgestellt mit seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Wie später ihre Kinder“, einem soziologisch aufschlussreichen Buch über das Frankreich von heute. Mit „Rose Royal“ legt er nun eine vergleichsweise überschaubare Geschichte – eine Art existentialistisches Kammerstück von nicht einmal 100 Seiten – vor, in der wieder viel Milieu aufscheint, dieses Mal an zwei Figuren illustriert, die auf fatale Weise dem Irrtum aufsitzen, füreinander geschaffen zu sein.
Rose, eine attraktive Frau Anfang 50, geschieden, zwei Kinder, läuft jeden Abend nach der Arbeit in ihre Stammkneipe, ins „Royal“, um locker abzuhängen. Schnell zeigt sich: Sie hat eine Menge gelebtes Leben hinter sich, vor allem negative Erfahrungen mit Männern, und da ist als Letzter ein gewisser Thierry auffällig geworden; als der droht, sie zu vergewaltigen, wird es ihr zu bunt: Über das Internet verschafft sie sich einen Revolver, rein präventiv, versteht sich, zur Abschreckung im Gefahrenfall, doch klar ist: „Wenn es sein müsste, würde sie den Abzug drücken“. Was man dieser resolut auftretenden Frau sofort abnimmt.
Der Revolver wird bald zum Einsatz kommen, aber zunächst anders, als gedacht. Als ein Mann mit seinem von einem Auto angefahrenen Hund auf dem Arm das „Royal“ betritt, setzt sie der leidenden Kreatur vor aller Augen den finalen Gnadenschuss. Nun geht Rose mit Luc, dem Besitzer dieses Hundes, eine Liaison ein, es passt scheinbar gerade auf beiden Seiten, sie könnten tatsächlich Seelenverwandte sein, beide sind erfahrene Trinker, oder anders ausgedrückt – routiniert in der Weise, wie man den Müll des Alltags nicht an sich heranlässt.
Luc ist Immobilienhändler und erscheint von vorneherein in einem eher zwielichtigen Licht, sodass man als Außenstehender begründete Zweifel haben kann, ob er wirklich der Richtige für Rose ist. Bereits hier zeigt sich die große feinsinnige Kunst des Nicolas Mathieu, in der Art, wie er Charaktermerkmale hervorhebt – vorzugsweise durch eine indirekte, nicht ins Persönliche zielende Beschreibung alltäglicher Probleme bzw. Grenzüberschreitungen: „Männer wie er meinten ohnehin, dass manche Gesetze nicht für sie galten; in erster Linie, wenn sie sein Auto betrafen. Und dann noch alles, was Alkohol, Tabak, Sozialversicherung oder Steuer anging.“ Seltsam, dass die eigentlich hellsichtig erscheinende Rose diese ungute Ausgangslage weitestgehend ignoriert.
Denn es klappt auch sexuell nicht mit diesem Audi–Q7–fahrenden Blender, in der Regel kommt es zu „unbeholfenem Betrunkenensex“ ohne Abschluss, es geht nur noch darum, „es hinter sich zu bringen“, und so mehrt sich beiderseitig der Frust, die jeweiligen Erwartungen und Enttäuschungen entwickeln eine Eigendynamik, die vor allem Lucs Ego zusetzt.
Bei Rose fällt auf, dass sie ihre stärker werdenden Zweifel nicht konsequent in einen Akt der Befreiung münden lässt, im Gegenteil, sie hängt ihren Job in Paris an den Nagel, zieht zu Luc aufs Land, lässt sich von ihm sogar als Sekretärin anstellen. Streit und Versöhnung, das immer selbe Muster, dazu Langeweile, Tristesse – Rose spielt stundenlang am Computer Solitär, einzig der Alkohol „war ihnen eine gemeinsame Zuflucht geblieben.“ Und so kommt am Ende tatsächlich nochmal der Revolver zum Einsatz, aber anders als man vielleicht vermutet hätte.
Mathieu beweist eine hohe Fertigkeit in Fragen schriftstellerischer Ökonomie: Im stilistischen Prinzip der Verknappung kann ein halbes Leben in einem kleinen Satz zusammengepackt und die fatale Spirale eines allmählichen Scheiterns sichtbar gemacht werden. Das ist große Kunst im Kleinen.
Nicolas Mathieu: Rose Royal. Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Verlag, Berlin 2020, 95 S., 18.-€
aus biograph 11/20
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