Die hier vorliegenden Erzählungen Don Delillos, es sind deren neun, stammen aus den Jahren 1979 bis 2011, woran abzulesen ist, dass das Genre der short-story wohl nicht seine bevorzugte Domäne ist. Aber das ist eine Detailfrage. Bei aller Heterogenität der Erzählungen und der Unmöglichkeit, ein einziges Thema oder eine allumfassende Essenz zu destillieren, lässt sich allerdings erkennen, was für ein überragender Beobachter der mittlerweile 76-jährige Amerikaner ist. Auch sprachlich ist das meisterlich (ein Lob an den Übersetzer). In der titelgebenden, wegen ihrer Originalität vielleicht beeindruckendsten Geschichte begegnen wir der Nonne Grace, die mit einigen Glaubenschwestern und –brüdern in der South Bronx als streetworker unterwegs ist, wobei es auch um Ablasshandel geht: „Das Gebet ist eine Strategie der Praxis, es verschafft einen zeitlichen Vorteil auf den Kapitalmärkten von Sünde und Vergebung.“ Doch sie wollen nicht bekehren, sie sind unterwegs zu Kirchen, wo sie die aufgetragenen Engel der Fassadensprayer inspizieren, das ist eins der betreuten sozialen Projekte. Die Gespräche mit den jugendlichen Junkies sind subtil beobachtet – „Sie sprechen ein unfertiges Englisch, weich und gedämpft, mit abgesoffenen Suffixen, und sie (Grace) hätte ihnen am liebsten ein paar harte Gs hinten in die ing-Formen gehämmert.“ Es ist ein tristes Ambiente der Verlorenheit, in dem kontrastreich Touristenbusse in Karnevalsfarben herumfahren – ein zynischer Zusammenschluss vermeintlich normaler Menschen, geil auf das Elend. Grace, diese „Soldatin, eine Kämpferin für den Wert des Menschen“, erspäht die elternlose Esmeralda im Gewühl der Autowracks, sie will mir ihr reden, aber die entzieht sich. Und wenig später ist da die Meldung, dass Esmeralda vergewaltigt und getötet worden ist. Diese seltsame Community inszeniert daraufhin ein surreal anmutendes Spektakel, eine Würdigung der Toten auf ihre Art: Das Bild Esmeraldas wird auf eine Reklamewand projiziert, und alle sind ergriffen, denn alle brauchen Zeichen, etwas Handfestes, es werden eingeschweißte Bilder mit ihrem Konterfei verkauft, nebst Jungkätzchen. Und am Abend darauf ist die Plakatwand wieder leer, da stehen nur noch die beiden Worte „Freie Werbefläche“, und die Leute wissen nicht, wo sie hinschauen und was sie glauben sollen.
Delillo hat einen eigenen Blick auf menschliche Verlorenheiten, auf die Einsamkeitskokons der Grossstädter, die ihre eklatanten Unsicherheiten, ihre psychologischen Defizite, in neurotische Verhaltensmuster überführt haben. In „Die Hungerleiderin“, wohl Delillos jüngste Erzählung, sehen wir Leo und Flory, ein geschiedenes Pärchen, das dennoch weiter irgendwie zusammenlebt, keiner weiß, warum – Sex spielt jedenfalls keine Rolle mehr. Entfremdung ist aber ständig zugegen, und dabei höchst fein: „Am Türgriff des Wandschranks baumelte ein BH von ihr. Er betrachtete ihn und überlegte, wie lang der wohl schon dort hing.“ Leo ist manischer Kinogänger, er folgt einer Frau ins Kino, setzt sich hinter sie, verfolgt sie auch nach der Vorstellung und fabuliert über ihr Leben, gibt ihr den Namen „Die Hungerleiderin“. Auf einer Damentoilette spricht er sie an, macht ihr einen Vortrag über japanische Filme. Als sie spürt, dass er ziemlich harmlos ist und keine Vergewaltigung plant, geht sie einfach, und Leo zieht ab nach Hause, zu Flory. Dort, das weiß er sehr wohl, ist die Entfremdung zumindest eine vertraute.
Don Delillo: Der Engel Esmeralda. Neun Erzählungen. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2012, 247 S., € 18.99
aus biograph 12/2012
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