Redet man über Raymond Carvers Erzählungen, dann kommt da schnell ein anderer Name ins Spiel – Gordon Lish, Carvers Lektor, der seinerzeit so massiv in die Vorlagen seines Schützlings eingegriffen hatte, dass das Original im Grunde kaum noch wiederzuerkennen war. Kurioserweise, eine bis dahin wohl einzigartige Erscheinung im Literaturbetrieb, schien das der positiven Rezeption Carvers aber keinen Abbruch zu tun, im Gegenteil, man lobte den reduzierten, lakonischen Stil eines begnadeten Erzählers, die Pointierungen, die sich gerade durch Leerstellen im Textgefüge manifestierten. Carver (1938-1988) war im übrigen mit den Kürzungen auch einverstanden, zumindest zu Beginn, Briefe von Carver an Lish, die im Anhang dieser Erzählungen abgedruckt sind, belegen überrashend seine Dankbarkeit über die Schnitte („so ist es viel besser“), und erst später monierte er die „chirurgische Amputation“, die Lish den Texten beifügte, was sich schließlich auch auf das Vertrauensverhältnis zu ihm auswirkte, es wurde schwieriger. Carver war zeitlebens ein absturzgefährdeter Alkoholiker, und die Verletzungen an seinen Texten erlebte er bald dann als Messerstiche in die eigene Seele.
Nun liegt auch auf deutsch die Urfassung eines Erzählbandes vor, der vor längerem bei uns unter dem Titel „Wovon wir reden, wenn wir über Liebe reden“ erschienen war. Anhänger der Komparatistik dürfen sich natürlich freuen, beide Textversionen miteinander vergleichen zu können. Doch die vorliegende Urfassung kommt auch ohne die bekanntere, eben beschnittene Vorlage aus, Carver ist einfach ein begnadeter Erzähler, so gut wie nichts erscheint da wirklich redundant oder zu lang geraten. Man merkt im Gegenteil: Lish hat durch seine Einschnitte die Komplexität gewisser Figuren und Teile des Plots leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Gewisse Motive bleiben den Geschichten natürlich fest eingeschrieben und sind höchstwahrscheinlich biographisch relevant: massive Alkoholprobleme, Beziehungsstress, Entfremdung, Gewalt – letztendlich der standardisierte Cocktail für Loser-Geschichten. Robert Altman hat für seinen Film „Short Cuts“ (1993) Teile der Erzählungen verwendet, etwa die traurige Geschichte „Ein kleiner Segen“, wo ein kleiner Junge auf der Straße von einem Auto erfasst wird und die Fahrerin, die sich nur oberflächlich nach der vermeintlichen Unversehrtheit des Jungen erkundigt, einfach weiterfährt. Er wird ins Krankenhaus gebracht, man vermutet eine Gehirnerschütterung, aber der Junge wird trotz aller Beschwichtigungen seitens der Ärzteschaft am Ende sterben. Altmann hat auch die Szene aus „So viel Wasser so nah bei uns“ übernommen, wo sich drei Ausflugsangler von einer Mädchenleiche im Fluss nicht beirren lassen und erstmal ihr geplantes Wochenende fröhlich und whiskyselig zu Ende bringen, bevor sie den Sheriff informieren; eine der Ehefrauen ist, als sie dies erfährt, darüber im höchsten Maße irritiert, man spürt die hochschnellende Entfremdung, den Riss, der irreparabel wird. Genau so ist das bei Carver: Vieles, was harmlos und belanglos beginnt, gerät unversehens und massiv aus dem Ruder. In „Sag den Frauen, wir gehen“, wollen zwei alte Freunde nur Spaß haben, machen eine Spritztour mit dem Auto, quatschen zwei Radlerinnen an, und am Ende ist eine von beiden tot, weil sie sich gegen die Anmache gewehrt hatte. Wer Carver noch nicht kennt, für den ist es ganz einfach: hier ist die Chance auf eine große Entdeckung.
Raymond Carver: Beginners. Uncut. Die Originalversion von Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden. Aus dem Englischen von Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié sowie Antje Rávic Strubel. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2012, 361 S., 21.99 €
(aus biograph 10/2012)
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