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Sohn von Desperados

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Im Gegensatz zu früheren Romanen Richard Fords, in denen es meist um die individuellen Verwerfungen bestimmter Figuren auf dem Hintergrund persönlicher (Fehl-)Entwicklungen ging und in denen ein gesellschaftlicher oder politischer Hintergund – etwa die Bush-Ära – stets mitreflektiert war, ist sein neues Buch ganz auf die Geschichte eines heranwaschenden Jungen um die frühen 1960er Jahre fokussiert, auf einen Ich-Erzähler, dessen Leben binnen kurzer Zeit komplett umgewälzt wird. Das Buch beginnt gleich mit einem Paukenschlag: „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Moden, die sich später ereigneten.“ Davon berichtet er tatsächlich aber erst sehr viel später. Die Eltern, beide relativ jung, machen aus finanzieller Not heraus einen stümperhaften Banküberfall und wandern dann für lange Zeit in den Knast. Der 15-jährige Dell Parsons ist zusammen mit seiner Schwester Berner plötzlich auf sich allein gestellt. Immerhin haben die Eltern dies noch ansatzweise bedacht, denn Dell soll im Falle der Fälle bei einem entfernten Bekannten in Kanada unterkommen, nur Berner macht sich selbst auf und davon, sie schlägt sich nach Kalifornien durch, ihr Leben gerät komplett aus den Fugen, aber das ist hier nicht das Thema.

Bis Dell die Grenze nach Kanada übertritt, grundiert Ford erst einmal den Plot mit einer Fülle von Momentaufnahmen des elterlichen Lebens und er tut dies mit einem für ihn untypischen Tempo. Alles hier wirkt komplett entschleunigt, der ganze Roman, obwohl episch angelegt, ist eigentlich ein langes, retardierendes Moment. Ausführlich wird Dells Vater beschrieben, er gerät auf die schiefe Bahn, ist dabei aber ein Typ, der überhaupt keine kriminelle Energie besitzt (und seine gebildete, belesene Frau noch weniger). Er will „einen sympathischen Bankraub begehen“. Die Sache geht mächtig schief, die Eltern werden im Beisein der Kinder verhaftet, und das heißt für den jugendlichen Protagonisten erst einmal: „Jetzt waren sie fort, und mit ihnen ihre Regeln. Mir wurde schwindelig davon.“ Es kümmert sich kein Jugendamt, keine Polizei, niemand ist da. Einmal besucht er sie im Gefängnis, danach wird er sie nie mehr wiedersehen.

In Kanada dann hält Dell sich erst einmal mit einem Job in einem Hotel über Wasser. Zwei Männer werden wichtig für ihn, ein gewisser Arthur Remlinger, bei dem er unterkommt und Charley, dessen Faktotum und Kontrahent. Wie sich herausstellt, ist Arthur ein ziemlicher Wirrkopf, der nach einem politisch motivierten Bombenanschlag mit Todesfolge nach Kanada geflüchtet war. Arthur nimmt Dell zusehends unter seine Fittiche, instrumentalisiert ihn, gibt ihn als seinen Sohn aus, und Dell kommt aus dieser zwielichtigen Entourage, aus dem doch irgendwie lebensbestimmenden Dunstkreis des Verbrechens, nicht heraus. Die Sache spitzt sich zu: Als Arthur zwei aus den USA kommende Männer, die ihn, Arthur, wegen des oben genanntenVergehens stellen wollen (sie wollen ihn eigentlich nur befragen, nicht festnehmen), kaltblütig ermordet, ist Dell anwesend. Die beiden Leichen werden auch von beiden gemeinsam begraben. Gewalt, so scheint’s, kann Dell, der ohnehin schon alles verloren hat, nicht mehr schocken. Eine komplett erkaltete Individuation wird hier offenbar.

Diese Geschichte über den Verlust einer Kindheit, über ein schuldloses Hineingeraten in obskure Machenschaften und über die ganz langsam stattfindende Emanzipation, ist feine, tiefgründige Prosa, die allerdings auch etwas Geduld erfordert.

Richard Ford: Kanada. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2012, 464 S., € 24.90


(aus biograph 11/2012)

Thomas Laux

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