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Zwischen zwei Welten

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Fazil ist ein literaturvernarrter Student, der sich für Klassiker wie Flaubert und Henry James begeistert und dessen Wunsch es ist, sein Leben „unter literaturliebenden Menschen zu verbringen“. Schnell wird klar, dass dieses beschworene Ideal sich an den Realien des türkischen Alltags stößt, in einem vergifteten Klima stattfindet, in dem Polizeieinsätze, willkürliche Verhaftungen, Gewalt überhaupt, zu erheblichen Verunsicherungen insbesondere im Kreis der Intellektuellen und Künstler führt. Obwohl der Name Erdoğan nicht einmal fällt, ist klar, dass nur diese heutige, auf Repression fußende Türkei gemeint sein kann. Altan selbst wurde 2018 als vermeintlicher Mittäter des Umsturzversuchs von 2016 und wegen angeblicher Unterstützung der Gülen–Bewegung zu lebenslanger Haft verurteilt, auf internationalen Druck 2021 freigelassen. Bei vorliegendem Buch, geschrieben in seiner Haftzeit, wundert man sich, dass es in der Türkei überhaupt erscheinen konnte.
Unser Protagonist lebt in einem Haus zwischen randständigen Figuren der türkischen Gesellschaft, vor allem aber teilt er sich sein Leben mit zwei Frauen, die hier etwa zeitgleich in Erscheinung treten. Da ist zunächst die etwas ältere, von Literatur gänzlich unbeleckte Tänzerin und Schauspielerin Hayat, die vor allem mit ihrer ungezügelten Lebensart zu punkten weiß und auch sexuell die Zügel in der Hand hält; sie erscheint als eine direkte Antipode zu Fazils manchmal etwas blasiert vorgetragener Intellektualität. Zu Anfang zeigt er sich ihr gegenüber auch reserviert: „Wie soll ich (…) jemanden lieben, der meine Liebe zur Literatur nicht teilt?“ Ihre Beziehung wird sich damit ganz profan im Bett abspielen, was aber durchaus beiden gefällt. Doch es reicht ihm eben nicht, und so kommt die gleichaltrige Sıla ins Spiel, eine Kommilitonin, die mit ihren literarischen Vorlieben viel besser zu unserem Helden zu passen scheint. „Ihre Schönheit überwältigte mich und übte einen Sog aus wie ein guter Roman.“ (Klar: Welche Frau wäre nicht entzückt, mit einem guten Roman verglichen zu werden.) Es kommt zu der bezeichnenden Szene – sie könnte einem frühen Woody–Allen–Film entsprungen sein –, in der beide zunächst über Dostojewski und Ingmar Bergman reden, bevor es auch sexuell klappt – eine bemerkenswert neurotisch auftretende Verquickung von Erotik und Literatur.
Altan zeigt uns einen jungen Mann – in jeder Hinsicht naiv, besserwisserisch, träumerisch und sensibel zugleich –, der sich in dem, was er will, noch nicht gefunden hat, der seine körperlichen Bedürfnisse immer wieder mit seinen intellektuellen Ansprüchen abzugleichen sucht. Dass er zu beiden Frauen wie selbstverständlich eine sexuelle Beziehung unterhält, bringt ihn moralisch in keinerlei Nöte; er holt sich das, was er braucht, stets bei der, die gerade verfügbar ist. Und auch sonst scheint ihm am wichtigsten, was gerade opportun ist: Wenn er für eine regierungskritische Zeitung, die später verboten wird, arbeitet bzw. Texte redigiert, so entspringt das keinem politischen oder sonst wie gearteten Engagement, das alles ist für ihn nur ein Job. So wird er auch das geplante „Exil“ in Kanada, das Sıla für beide anstrebt, nicht realistisch weiterverfolgen, sondern trotz aller bedrohlichen Umstände eine auffällig unpolitische Figur bleiben, entrückt und ambivalent. Und doch scheint Altan seinen Protagonisten ein Stück weit in Schutz nehmen zu wollen, er kritisiert ihn nicht. So zieht der Roman seine wesentliche Kraft aus der stets bedrückenden Atmosphäre, die Altan mit einer einfachen, wenngleich immerzu präzisen und effizienten Sprache einfängt – und somit eine Bedrohung kenntlich macht, die, da nur in seltenen Momenten manifest, einem umso unheimlicher erscheint.
Ahmet Altan: Hayat heißt Leben. Roman. Aus dem Türkischen von Ute Birgi–Knellessen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022, 251 S., 24.-€

aus biograph 10/22

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