Diesen Mann hatte vor zwei oder drei Jahren noch niemand auf dem Schirm: der 1903 in St. Petersburg geborene und 1971 in München verstorbene Gaito Gasdanow war allenfalls russlandaffinen Literaturexperten ein Begriff, erst die überschwänglich gefeierte Herausgabe seines Romans „Das Phantom des Alexander Wolf“ im Jahre 2012 machte ihn auch hierzulande bekannt. Seitdem wartete man auf weitere Publikationen; jetzt hat das Warten ein Ende.
Und zwar mit dem Roman „Ein Abend bei Claire“. Der liegt zeitlich vor dem erwähnten „Phantom“, ist Gasdanows Debüt von 1930 und trägt deutlich autobiographische Züge, das Buch wurde bereits bei seinem ersten Erscheinen von Koryphäen wie Maxim Gorki sehr gelobt.
Kolja heißt der jugendliche Erzähler, er ist anfangs bei einer gewissen Claire in Paris, sie ist drei Jahre älter und stellt so etwas wie seine heimliche Jugendliebe dar, aber sie ist krank, ihr Mann weilt in Ceylon, Kolja unternimmt einige ungeschickte Annäherungsversuche und kriegt dafür eine Abfuhr (später wird es genau umgekehrt sein: ihren Avancen kommt er, schüchtern im Herzen, nicht nach; und er wird es sich ewig vorwerfen). Dieses Anfangsszenario einer zaghaft sich anbahnenden Liebe trügt, denn schon bald geht der Blick zurück in Koljas jüngere Vergangenheit, und von Claire wird lange Zeit überhaupt nicht mehr die Rede sein, man folgt Kolja in einem Russland vor und nach der Oktoberrevolution. Und Gasdanow hält dabei ständig einen interpretatorischen Schwebezustand aufrecht, bei dem nicht ganz klar ist, was erzählte Erinnerung und was Fiktion ist. Das war im übrigen auch in dem „Phantom“ so, dieses bewusste Abschweifen oder Mäandern zwischen gelebtem und erdichtetem Leben erscheint als ein Stilprinzip seiner Schreibweise.
Schwere Erschütterungen prägen Koljas junges Leben: der Vater stirbt, als Kolja acht Jahre alt ist, dann sterben die beiden Schwestern, die schweigsame Mutter ist keine Hilfe und zudem durch eine eigentümliche Kälte charakterisiert. Es geht nunmehr, ein klassisches Paradigma, um das Suchen nach Identität, wobei Gasdanow nicht unbedingt auf chronologische Stringenz setzt. Man begreift aber die Bedeutungen: die Gymnasialzeit und die Kadettenschule etwa, in der Koljas negative Einstellung zu Korpsgeist und Religion aufscheint. Er ist da seinem Vater, einem notorischen Todesverachter, sehr ähnlich. Und dann ist das noch sein Onkel Witali, der mit seiner spöttischen und religionsfernen Lebenseinstellung großen Einfluss auf ihn hat.
Sechzehnjährig meldet er sich freiwillig bei der Weißen Armee, es hätte auch die Rote sein können, im Bürgerkrieg sind die Linien zwischen Nationalisten und Kommunisten ziemlich vage. Diese Phase ist vielleicht etwas breit angelegt, man glaubt natürlich der einschneidenden Bedeutung, die die Bürgerkriegserfahrung (Gefechte, kruder Alltag, Sterben rundherum etc.) auf den gerade 16-jährigen haben musste, dennoch hätte man sich hier mehr Stringenz gewünscht und den gesamten Bezug zur Jugendliebe Claire etwas vorzeitiger wiederhergestellt. Sie, Claire, hatte er kurz nach der Oktoberrevolution in einem Turnverein erblickt, ihre Mutter, Französin, nahm sie dann mit nach Paris. Auch Kolja wird Russland am Ende über Konstantinopel verlassen. Auf dem Dampfer träumt er von ihr und weiß „dass diese Claire mir gehören würde“. Das weiß keiner genau, aber bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt.
Gaito Gasdanow: Ein Abend bei Claire. Roman. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Hanser Verlag, München 2014, 189 S., 17.90 €
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