Der namenlose Erzähler in Olivier Rolins neuem Roman (der tatsächlich von 1994 ist und gerade erstmals übersetzt erscheint) hält sich in seiner Funktion als Hafenchef in Port Sudan auf, wo er es bei seinem Job vor allem mit Schutzgelderpressung und Schwarzhandel zu tun hat, keine erbauliche Arbeit, schließlich aber lebt er davon. Eines Tages erfährt er vom Ableben eines entfernten Freundes in Paris, womöglich ist es ein Selbstmord gewesen. Dieser Mann, Schriftsteller, der immerzu nur „A.“ genannt wird, hatte kurz vor seinem mutmaßlichen Freitod noch einen Brief an den Erzähler in der Ferne aufgesetzt, war indes über die beiden Worte „Lieber Freund“ nicht hinausgekommen.
Eine Haushaltshilfe, die A. etwas näher kannte, lässt ihm die betreffende Nachricht zukommen, und unser Mann begibt sich kurz entschlossen nach Paris, in der Absicht, die Hintergründe dieses Todes, aber auch die Motivation für den angefangenen Brief in Erfahrung zu bringen. Es ist, als wollte er den Text ergründen, den aufzusetzen A. nicht mehr gelungen war.
Die genannte Haushaltshilfe ist von „beredter Bosheit“ und erweist sich als geschwätzig auch in ihren Mutmaßungen, immerhin aber liefert sie Hinweise auf eine junge Frau, mit der A. zeitweilig gelebt haben soll, ihre zurückgelassene Kleidung lässt darauf schließen. Nach dem Weggang dieser Frau ist es mit A. psychisch wohl bergab gegangen, auch diese Hinweise verdichten sich. Die Recherchen des Erzählers verlieren sich – ein Stück weit bewusst, scheint es – in mäandernden, manchmal pittoresk–philosophischen Gedankengängen, die zwischen den konkreten Orten Paris und Port Sudan hin– und herschwingen. Sie belegen vor allem eine von beiden Männern gemeinsam erlebte Zeit. Unverhohlene Gesellschaftskritik gerät in die Gedankenwelt des Erzählers – Mai 68 dürfte nicht lange her sein –, erkennbar ist eine Missbilligung der westlichen Welt mit all ihren Insignien des Konsums, der schnöden Warenwelt, der profanen Zerstreuung (Börse, Pferderennen, Glücksspiele), dieser „weichen Maschine, die auf die Auslöschung des Denkens“ zielt. Unterschwellig wird diesen Erscheinungen auch eine Mitschuld am Tod des Freundes gegeben.
Aber es konkretisiert sich, dass mit dem Verschwinden der jungen Frau, von der der Erzähler eigentlich nur annehmen kann, dass sie mit A. in irgendeiner Form verbandelt war, der endgültige Zusammenbruch markiert werden kann. Spuren von Verwahrlosung sind in der vakanten Wohnung auszumachen, Haushaltshilfe und Concierge des Hauses äußern sich despektierlich, erkannten in ihm zuvor schon nur einen „Störenfried“. Man erfährt, dass er noch kurz vor seinem Tod in klinischer Behandlung gewesen sein soll. Unser Erzähler kann Näheres in Erfahrung bringen, eine Klinikangestellte berichtet über den psychischen Zustand A.‘s bei seiner Einlieferung, von Alkoholexzessen und Antidepressiva ist da die Rede.
Schließlich aber kommt er mit seiner forcierten Erinnerungsarbeit nicht wirklich voran. Selbst wenn er weitere Puzzleteile entdeckt, die zur Lösung des Rätsels beitragen könnten, zeigt sich immer ein Zuspätkommen, und vieles bleibt ohnehin im Spekulativen, unsagbar oder unausgesprochen. Der Versuch, die letzten Tage und Wochen des verstorbenen Freundes zu bestimmen, das Rätsel seines Verschwindens zu lösen, markiert letztlich ein Scheitern. Wie in seinem wunderbaren Roman „Meroe“ – auf ihn sei an dieser Stelle unbedingt hingewiesen –, erweist sich Rolin als Meister, wenn es darum geht, Illusionen zu begraben und verlorene Zeit spürbar zu machen. Ihm gelingt das ohne aufgeplusterten Nostalgiekitsch, seine Prosa ist, auch dank einer feinsinnigen Übersetzung, von berückender Schönheit.
Olivier Rolin: Port Sudan. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Verlagsbuchhandlung liebeskind, München 2021, 124 S., 18.-€
aus biograph 02/2022
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