Die Bretagne ist vielen von uns in den letzten Jahren u.a. durch einen Mann namens Jean-Luc Bannalec (einem dort lebenden Deutschen, dessen Romane jetzt sogar auf Französisch erscheinen) nähergebracht worden. Sein Bild der Region ist klischeegesättigt und will die Verhältnisse dort nicht wirklichkeitsnah darstellen. Wie man es anders und viel realistischer hinkriegt, zeigt sich anhand des gerade erschienenen Buches des echten Bretonen Tanguy Viel, denn hier bekommt man eine Ahnung davon, was es mit den Eigenheiten dieses Landstrichs tatsächlich auf sich hat. Der Roman zeigt ein breites Spektrum seelischer Untiefen und krimineller Machenschaften. Geradezu shakespearehaft ist er in seiner Anlage und bleibt dennoch subtil, es ist ein Drama der leisen Art, das sich hier abspielt.
Der Showdown steht gleich zu Anfang und ist praktisch zu vernachlässigen. Es beginnt mit einem Mord auf einem Boot vor der bretonischen Küste, ein Mann geht über Bord bzw. wird ins Wasser gestoßen. Martial Kermeur ist der Mörder, das ist von Anfang an klar, man braucht nicht weiter zu suchen, wichtig wird nun allein sein Motiv. Kermeurs Tat ist das Ende einer langen Demütigung, gewissermaßen ein letzter Befreiungsschlag, der der eigenen Selbstachtung dient. In einem langen Dialog mit dem Haftrichter schält sich das nach und nach heraus.
Wir befinden uns also auf einer Halbinsel vor der Küstenstadt Brest im Norden der Bretagne, die infrastrukturellen Probleme, das heruntergekommene Ambiente, der morbide Charme, machen den Landstrich nur für wenige Touristen attraktiv. Ein Investor, Antoine Lazenec, taucht auf, der freilich meint, das Potential der Gegend erkannt zu haben und der gleich einmal ein zerfallenes Haus, ein Schloss wohl eher, kauft (er will es später übrigens abreißen lassen). Hier soll ein „Seebad“ errichtet werden, von dem auch die kleine Gemeinde angeblich profitieren soll, dazu braucht er indes ihr Vertrauen – und damit ihr Geld, er zieht ihnen (viele Männer arbeiteten zuvor hier auf einer Militärbasis und wurden auch fürstlich entlohnt) zwecks seiner anberaumten Investition in Eigentumswohnungen erst einmal ihre Ersparnisse aus der Tasche.
Auch Kermeur, der nach seiner Pensionierung und 400.000 Francs Abfindung jetzt nur noch für den Schlosspark arbeitet, will in eine Wohnung des geplanten Gebäudekomplexes investieren. Sogar der Bürgermeister des Ortes fällt auf den Immobilienhai herein, was ihn, der einen Millionenbetrag selber veruntreut hat (es gehörte der Gemeinde, es waren öffentliche Gelder), später in den Selbstmord treiben wird.
Die Kollateralschäden dieses Raubbaukapitalismus ziehen also viele Kreise. Auch Kermeurs jugendlich erscheinender Sohn Erwan, ein Eigenbrötler, wird hier zu einem kriminellen Akt getrieben, als er aus Rachegelüsten Lazenecs schmuckes Boot bei stürmigen Wetter im Hafen lostäut und gleich auch noch alle dort liegenden Booten in seine destruktive Aktion miteinbezieht; Erwan wird sich später auf der Anklagebank verantworten müssen. Kermeur aber hat alles verloren, auch seine Frau hat ihn verlassen. Selbst wenn das auf der ersten Blick nichts mit den Machenschaften Lazenecs zu tun hat, in der Gesamtbewertung seiner psychischen Not spielt es eine Rolle. So wird der Mord schließlich zwar nicht gerechtfertigt, aber ein Stück weit erklärbar, und auch der Richter wird am Ende ein erstaunliches, hochinteressantes Urteil fällen, das hier allerdings nicht verraten werden kann.
Tanguy Viel: Selbstjustiz. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Wagenbach, Berlin 2017, 168 S., 20.- €
(aus biograph 02/2018)
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